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       # taz.de -- Volksabstimmung in Kirgistan: Mehr Macht für die Regierung
       
       > Die Kirgisen stimmen am Sonntag über Änderungen der Verfassung ab.
       > Kritiker glauben, dass sich der Präsident weiter Einfluss sichern will.
       
   IMG Bild: Auf dem Pferd zur Stimmabgabe in Bischkek
       
       Berlin taz | Die ehemalige Sowjetrepublik Kirgistan galt bislang als „Insel
       der Demokratie“ in Zentralasien. Das könnte sich jetzt ändern. An diesem
       Sonntag sind die Menschen in dem 5,5 Millionen-Einwohner-Staat dazu
       aufgerufen, in einem Referendum über ein Paket von 26 Verfassungsänderungen
       abzustimmen. Im wesentlichen geht es darum, Kompetenzen des Parlaments und
       Staatspräsidenten auf den Regierungschef zu übertragen.
       
       Seit der Unabhängigkeit 1991 entledigten sich die Kirgisen bereits zweimal
       ihres Staatspräsidenten. 2005 stürzte im Zuge der sogenannten
       „Tulpenrevolution“ Askar Akajew. Ihm folgte Kurmanbek Bakijew nach. Er
       brauchte gerade einmal fünf Jahre, um seinen Kredit bei der Bevölkerung
       vollends zu verspielen. Im April 2010 kam es zu gewaltätigen
       Demonstrationen, am 15. des Monats floh Bakijew nach Kasachstan.
       
       Zeitgleich brachen im Süden des Landes schwere Unruhen zwischen Kirgisen
       und Angehörigen des usbekischen Minderheit aus. Dabei starben hunderte
       Menschen, zehntausende flüchteten – vor allem ins Nachbarland Usbekistan.
       
       Am 27. Juni 2010 ließ die damalige Übergangsregierung unter Rosa Otunbajewa
       in einem Referendum über eine Änderung der Verfassung abstimmen, die die
       Grundlage für eine parlamentarische Republik schuf.
       
       ## Im Rückwärtsgang
       
       Diese Entwicklung will der amtierende Staatschef, der Sozialdemokrat
       Aslambek Atambajew, der seit 2011 an der Macht ist und dessen Mandat im
       kommenden Jahr ausläuft, mit den geplanten Verfassungsänderungen in Teilen
       wieder rückgängig machen.
       
       So soll der Regierungschef künftig bis auf die Minister für Verteidigung,
       nationale Sicherheit und Inneres alle Kabinettsmitglieder ernennen und auch
       wieder abberufen dürfen. Diese Vollmacht obliegt bislang dem Präsidenten.
       Er ernennt und entlässt örtliche Verwaltungschefs, ohne sich, wie bisher,
       mit den Verwaltungsräten abstimmen zu müssen. Um den Premier abzusetzen,
       bedarf es einer Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten. Demgegenüber erhält
       der Präsident mehr Zugriff auf die Judikative, da er Richter ernennen und
       abberufen darf.
       
       Die Verfassungsänderungen betreffen jedoch nicht nur die Machtverteilung
       zwischen zwischen Legislative und Exekutive. So soll künftig der Vorrang
       von internationalem Recht in Form von Verträgen und Vereinbarungen vor
       kirgisischen Gesetzen nicht mehr gelten. Eine Ehe kann nur zwischen Mann
       und Frau geschlossen werden – eine Regelung, die bereits im Familienrecht
       fixiert ist. Zudem soll in einigen Fällen auch die Staatsbürgerschaft
       entzogen werden können, wobei genaue Ausführungen dazu fehlen.
       
       An Kritikern des Referendums, das Atambajew initiierte, dabei aber seine
       Parteigenossen vorschob, mangelt es in Kirgistan nicht. So sieht der Chef
       der oppositionellen Partei Ata Meken, Omurbek Tekebajew, in dem Referendum
       einen Versuch Atambajews, seinen Einfluß zu erhalten und auszubauen, wenn
       er im nächsten Jahr nach einem Mandat den Präsidentensessel räumen muss.
       „Die Idee, Entscheidungsvollmachten vom Präsidenten auf den Regierungschef
       zu übertragen, wird zu Autoritarismus führen“, zitiert ihn das
       Internetportal Eurasia Daily Mirror.
       
       ## Experten warnen
       
       Aber auch internationale Experten warnen. Die geplanten Änderungen „werden
       sich negativ auf die Gewaltenteilung auswirken, indem sie die Vollmachten
       der Exekutive stärken, jedoch das Parlament und die Judikative schwächen“,
       heiß es in es in einer gemeinsamen Erklärung der OSZE und der Wiener
       Kommission des Europarates.
       
       Doch inwieweit sich die Kirgiesen am heutigen Sonntag für das Schicksal
       ihres Grundgesetzes interessieren und zur Abstimmung gehen (die
       Mindestbeteiligung liegt bei 50 Prozent), ist noch unklar. Die Menschen
       plagen andere Sorgen. Obwohl das Land über Bodenschätze wie Gold, Kohle, Öl
       oder Kupfer verfügt, ist die wirtschaftliche Lage vieler Einwohner prekär.
       Ein Drittel von ihnen lebt unter der Armutsgrenze.
       
       Einmal abgesehen davon, dass kirgisische Arbeitsmigranten (allein rund
       500.000 In Russland) mit ihren regelmäßigen Überweisungen in ihre Heimat
       eine wichtige Devisenquelle sind: Auch die Mitgliedschaft Kirgistans in der
       Eurasischen Wirtschaftsunion, zu der neben Russland auch Weißrussland,
       Kasachstan und Armenien gehören, hat an der wirtschaftlichen Situation
       wenig geändert. Zudem ist ein erneutes Aufflammen ethnischer Gewalt
       zwischen Kirgiesen und Usbeken nicht ausgeschlossen.
       
       Im vergangenen April reiste Kanzlerin Angela Merkel nach Kirgistan – als
       erste(r) deutsche(r) RegierungschefIn. „Wir haben eine große Hochachtung
       für den eigenständigen Weg, den Kirgistan seit 2010 geht“, sagte Merkel in
       der Hauptstadt Bischkek. Ihre Visite sei für das Land eine wichtige
       Anerkennung dafür, dass es sich als einzige Demokratie in einer Region
       behaupte, in der auch die Terrormiliz IS zu erstarken drohe. Fragt sich,
       wie lange noch.
       
       11 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Oertel
       
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