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       # taz.de -- Über Rassismus reden: Dreiste Umkehrung
       
       > Linke Medien setzen Kritik an kultureller Aneignung mit neurechten
       > Konzepten gleich. Die Frage nach Macht und Ausbeutung wird ignoriert.
       
   IMG Bild: Wer so feiern geht, trägt seinen Teil zur Diskriminierung bei
       
       Der Antirassismus sei kurz davor, in sein Gegenteil umzuschlagen, warnen
       derzeit linke deutsche Zeitungen. Vermeintlich reaktionäre Entwicklungen
       wie „linke Identitätspolitik“ und Critical Whiteness seien dafür
       verantwortlich, dass Antirassist_innen inzwischen selbst rassistisch
       agierten, lautet die Kritik. Der Anlass der aktuellen Debatte, [1][die auch
       mit dieser Reihe in der taz geführt wird], ist eher unspektakulär: Es geht
       um Kritik an kultureller Aneignung. Ausgelöst wurde die Debatte durch
       [2][einen Artikel im Missy Magazin] über Kostümierung, Frisuren und Essen
       auf einem Festival.
       
       In dem Text spottete Hengameh Yaghoobifarah darüber, dass etliche weiße
       Besucher_innen der „Fusion“ amerikanischen Federkopfschmuck als
       Kostümierung verwendeten, Kimonos und Dreadlocks trugen und dass die
       Essensstände zwar (ungewürztes!) Essen aus aller Welt anboten, aber fast
       nur weiße Menschen beschäftigten, um dieses zu verkaufen. Der Kernpunkt
       ihres Textes: Hier wird Kultur aus der ganzen Welt auf ignorante Art von
       einem hauptsächlich weißen Publikum angeeignet.
       
       In fast allen linken Zeitungen, [3][von der Graswurzelrevolution] über
       [4][die Jungle World] bis hin [5][zum Neuen Deutschland] und der taz, ist
       eine ganze Reihe von Artikeln mit erstaunlich ähnlichem Tenor erschienen.
       Sie nutzen Einzelbeispiele, teilweise falsch dargestellt, um eine gesamte
       Forschungsrichtung lächerlich zu machen, sie übertreiben das Ausmaß des
       Streits und schließlich stellen sie Kritik an kultureller Ausbeutung
       fälschlicherweise so dar, als würde damit kultureller Austausch insgesamt
       abgelehnt, und nicht etwa die ungleichen Machtverhältnisse, in denen eben
       kein Austausch, sondern Ausbeutung stattfindet. Sie kommen zu dem Schluss:
       Hier agieren Linke wie die Neue Rechte.
       
       Kulturelle Aneignung untersucht, wie Objekte und Praktiken von ihrer
       kulturellen und politischen Bedeutung losgelöst, auf ein konsumierbares
       Stereotyp zusammengestampft und kapitalistisch verwertet werden, also
       vermarktet, verkauft und konsumiert. Beispiele gibt es Unmengen. Von
       billigen Che-Guevara-Shirts bis zur Ausnutzung schwarzer Musikstile wie
       Reggae oder Hiphop durch große Musiklabels zur Vermarktung weißer
       Künstler_innen. Menschen, die sich in der Tracht – oder dem Klischee einer
       Tracht – aus einer anderen Gesellschaft (ver-)kleiden oder auch religiöse
       Symbole wie Buddhastatuen aufstellen, von denen sie nur den Hauch einer
       Ahnung haben, als Deko oder fürs Wellnessmarketing.
       
       ## Es ist nicht egal, wer was macht
       
       Das Konzept der „Kulturellen Aneignung“ kritisiert die Vereinnahmung von
       Kultur aus marginalisierten Communitys und ihre Verwertung und ihren Konsum
       durch mächtigere Gruppen, insbesondere durch Weiße. Während manche Schwarze
       beispielsweise am Arbeitsplatz für das Tragen von Dreads oder Cornrows
       verwarnt werden, [6][signalisieren weiße Popstars damit ihre vermeintliche
       Street Credibility]. Weil sich rassistische Strukturen sehr unterschiedlich
       auf Menschen auswirken, ist es also nicht gleichgültig, wer was macht.
       
       Die Autor_innen, die diese Kritik in Frage stellen, bemühen eine Reihe
       abseitiger Anekdoten. Hier haben sich US-Student_innen gegen ihr
       Mensa-Essen aufgelehnt, dort wurde ein Uni-Yogakurs eingestellt, in einem
       Blog werden Karnevalskostüme kritisiert und so weiter. Kulturelle Aneignung
       als Konzept erscheint als eine Reihe von US-Campusskandälchen und Artikeln
       in Onlinemedien, von denen ein paar – ob nun eigentlich unspektakulär oder
       tatsächlich absurd – als Punching Bags herhalten müssen. Das aber geht am
       Kern der Kritik vorbei und diskreditiert eine ganze Forschungsrichtung.
       
       Die Konzepte von „Kultureller Aneignung“ und „Critical Whiteness“ – auf die
       sich nicht nur die Jungle World eingeschossen zu haben scheint – stammen
       aus einer jahrzehntealten, vielfältigen Strömung der nordamerikanischen
       Rassismusforschung, deren Literatur in der medialen Debatte in Deutschland
       aber kaum rezipiert worden ist. Mit ihr analysieren Forscher_innen
       Rassismus nicht nur bei seinen Opfern, sondern auch [7][bei jenen, die von
       ihm profitieren] – auch in und für Deutschland.
       
       Es gibt zahlreiche Formen des kulturellen Austauschs, die nicht als
       Aneignung kritisiert werden – und dennoch tun die Autor_innen dieser
       Artikel so, als würde hier Austausch insgesamt abgelehnt. Der Fehlschluss
       ist absurd, so als würde man Menschen, die Arbeitsverträge für
       scheinselbstständige Amazon-Arbeiter_innen einfordern, vorwerfen, sie
       wollten die Selbstständigkeit allgemein abschaffen. Doch nichts dergleichen
       ist der Fall: Niemand verbietet Weißen, beispielsweise, mit der Null zu
       rechnen oder Tee zu trinken – obwohl auch das ursprünglich Kulturtechniken
       anderer Gesellschaften sind.
       
       ## Ein gegeneinander Ausspielen
       
       Einige Autor_innen ziehen sogar den abwegigen Vergleich mit dem
       „[8][Ethnopluralismus]“. Das neurechte Konzept des „Ethnopluralismus“ ist
       ein Versuch, Rassismus zu verschleiern. Weil es inzwischen politisch meist
       schwer vermittelbar ist, Menschengruppen anhand von ausgedachten „Rassen“
       diskriminieren zu wollen, hat die Neue Rechte am Wording gefeilt: Jedes
       Volk habe ein angestammtes Fleckchen auf der Erde, auf dem es zu bleiben
       habe. Damit ist allerdings nicht gemeint, dass zum Beispiel alle weißen
       Amerikaner_innen zurück nach Europa gehen sollen, sondern dass nicht-weiße
       Menschen nicht in mehrheitlich weiße Länder ziehen sollen.
       
       Die Kritik an kultureller Aneignung und Ethnopluralismus würden sich
       ähneln, weil beide „Jedem Stamm seine Bräuche“ fordern würden, heißt es in
       den Artikeln. Doch während die Kritik an kultureller Aneignung sich dafür
       einsetzt, dass vor allem die durch Kolonialismus, Völkermorde und
       Sklavenhandel marginalisierten Kulturen nicht weiter ausgebeutet und
       unterdrückt werden, versucht Ethnopluralismus die weltweite Vorherrschaft
       von Weißen als Ist-Zustand festzuschreiben.
       
       Dass die Kritik an kultureller Aneignung jeglichem Austausch entgegenstünde
       und selbst regressive Identitätspolitik sei, heißt im Umkehrschluss: Wer
       auf einem Festival in „indianischem Federschmuck“ herumläuft, bedient nicht
       etwa ein ignorantes Klischee, sondern löst ganz progressiv und postmodern
       Identitäten auf. Aber wer so feiern geht, bekämpft keine Diskriminierung.
       Im Gegenteil, die Karikatur trägt zur Diskriminierung bei.
       
       Die Autor_innen verteidigen dieses Verhalten aber implizit und spielen
       verschiedene Kämpfe des Antirassismus gegeneinander aus. Wenn weiße
       Menschen ihre Dreadlocks abschneiden würden, sei noch nichts gegen
       rassistische Polizeikontrollen getan, heißt es. Den North Dakota Sioux sei
       nicht geholfen, wenn sich ein Spiegel-Online-Kolumnist den Iro abrasieren
       würde; und koloniale Ausbeutung sei nicht damit abgegolten, wenn man sich
       keine Maori-Tätowierung stechen lasse, schreiben sie.
       
       ## Mehrebenen-Effekt
       
       Aber wer sagt, dass sich das gegenseitig ausschließt? Und wer hat
       behauptet, dass mit ein bisschen Selbstreflexion bereits alles erledigt
       ist? Strukturelle Unterdrückung wird mit kulturellen und sprachlichen
       Mitteln unterstützt und legitimiert. Und wenn die Welt im Kleinen etwas
       weniger rassistisch wird, werden vielleicht auch die Kämpfe im Großen
       beschleunigt.
       
       Bei den weißen Demonstrant_innen jedenfalls, die sich derzeit tatsächlich
       in North Dakota an die Seite der amerikanischen Indigenen stellen, um
       gemeinsam gegen den Bau einer Pipeline zu kämpfen, sieht man solches
       Verhalten nicht. Keiner der weißen Demonstrant_innen läuft mit Warbonnets
       herum und selbst wenn sie an einer Heilungszeremonie teilnehmen, gerieren
       sie sich nicht als „Ehrenindianer“, [9][sondern übernehmen Verantwortung
       für die Verbrechen ihrer Vorfahren].
       
       Nicht-Weiße scheinen für diese Autor_innen linker Zeitungen eher als
       rassistische Fantasie anderer Linker zu existieren. So als könnten
       Nicht-Weiße nicht selbst unter Linken sein und für sich sprechen. Linke,
       die kulturelle Aneignung kritisieren, hätten ein seltsames Bild von
       „beleidigten Exoten“ oder „sensiblen Dauerbeleidigten“, heißt es in den
       Artikeln. Obwohl sie behaupten, besser zu wissen, was Minderheiten wirklich
       denken, lehnen sie Konzepte aus marginalisierten Perspektiven ab, was
       Kulturelle Aneignung und Critical Whiteness ja sind.
       
       Statt sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen, arbeiten sich einige
       Journalist_innen lieber an grob verzerrten Anekdoten ab, um stellvertretend
       eine Form von Antirassismus lächerlich zu machen – inklusive der billigen
       Gleichsetzung von antirassistischer Kritik mit rassistischen Theorien.
       
       26 Dec 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schwerpunkt-Rassismus/!t5357160
   DIR [2] https://missy-magazine.de/2016/07/05/fusion-revisited-karneval-der-kulturlosen/
   DIR [3] http://www.graswurzel.net/413/essentialisierung.php
   DIR [4] http://jungle-world.com/artikel/2016/35/54756.html
   DIR [5] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1024101.neurechts-argumentierende-linke.html
   DIR [6] https://www.theguardian.com/fashion/2016/apr/05/justin-bieber-dreadlocks-cultural-appropriation-black-pride
   DIR [7] https://de.wikipedia.org/wiki/Wei%C3%9Fsein
   DIR [8] https://de.wikipedia.org/wiki/Ethnopluralismus
   DIR [9] /Ureinwohner-vergeben-US-Soldaten/!5364149
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Böcker
   DIR Lalon Sander
       
       ## TAGS
       
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