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       # taz.de -- taz-Serie Gut vorankommen: In vier Minuten von Asien nach Europa
       
       > Lange galt Istanbul als Verkehrsmoloch mit Dunstglocke. Bis die Stadt
       > konsequent auf den Ausbau des Schienenverkehrs setzte.
       
   IMG Bild: Glänzender Lichtblick: Neue U-Bahn-Linien sollen Istanbul vor dem Verkehrschaos bewahren
       
       Istanbul taz | Der Traum war uralt. Erste Skizzen für eine Zuglinie unter
       dem Bosporus stammen aus dem Jahr 1860, als der Reformsultan Abdülmescit I.
       einen Viadukt durch die Meerenge entwerfen ließ. Dennoch hat es mehr als
       ein Jahrhundert gedauert, bis aus dem Traum Wirklichkeit wurde. Heute setzt
       man sich auf der europäischen Seite Istanbuls in die Metro und steigt vier
       Minuten später auf der asiatischen Seite wieder aus. Mit der Marmaray-Bahn
       wurde im Oktober 2013 eine Fernbahn- und Metrolinie eröffnet, die nun zum
       Rückgrat des Istanbuler Schienenverkehrs gehört.
       
       Wer heute am Flughafen Atatürk landet, muss nicht mehr stundenlang mit dem
       Bus oder Taxi auf der Stadtautobahn im Stau stehen, um ins Zentrum zu
       kommen. Man setzt sich einfach in die Metro und fährt in einer knappen
       halben Stunde bis zum neuen Istanbuler Umsteigebahnhof Yenikapı. Von dort
       führt nicht nur die Marmaray-Linie auf die asiatische Seite Istanbuls; auch
       die Metrolinie 2 startet hier, die das europäische Zentrum in Richtung
       Schwarzes Meer durchquert.
       
       Mit der Fertigstellung dieses Umsteigebahnhofs, der nun die drei zentralen
       Schienenstränge der Stadt verbindet, hat Istanbul 2013 einen riesigen
       Fortschritt im öffentlichen Nahverkehr erlebt. Die Stadt galt zuvor zu
       Recht als schlimmer Verkehrsmoloch.
       
       Das rasante Bevölkerungswachstum seit Mitte der 60er Jahre von 1,5
       Millionen auf 15 Millionen bis 2005 hatte dazu geführt, dass die
       Verkehrsinfrastruktur den Bedürfnissen der Stadt katastrophal
       hinterherhinkte. Während die Politik zunächst ausschließlich auf den Ausbau
       von Straßen und auf Busse für den öffentlichen Nahverkehr setzte, hat mit
       Beginn des neuen Jahrtausends endlich ein konsequentes Umdenken eingesetzt.
       Stadtverwaltung und die Regierung in Ankara gaben sich ein ehrgeiziges
       Ziel: Der Anteil der Schiene am öffentlichen Nahverkehr sollte von damals 3
       Prozent in den nächsten Jahren kontinuierlich bis auf 30 Prozent gesteigert
       werden.
       
       Milliardeninvestitionen im Eiltempo 
       
       Tatsächlich haben die AKP-Regierung von Recep Tayyip Erdoğan und ihre
       Istanbuler Ableger an der Spitze der Stadtverwaltung Wort gehalten.
       Milliarden wurden investiert, der Verkehr in Istanbul wurde damit
       revolutioniert. Von den angepeilten 30 Prozent sind innerhalb von nur 15
       Jahren bereits rund die Hälfte geschafft.
       
       Bestehende Versatzstücke von S-Bahn, Straßenbahn und Metro wurden
       miteinander verknüpft und zu einem integrierten System vereinheitlicht. Mit
       einer sogenannten Istanbul Cip-Karte, auf die man bequem Geld aufladen
       kann, sind alle öffentlichen Verkehrsmittel leicht zu nutzen. Überdies sind
       sie verhältnismäßig preiswert: Für kaum 2 Euro kann man heute vom Flughafen
       ganz im Westen der Stadt fast 100 Kilometer mit der Metro bis ganz in den
       Osten, auf der asiatischen Seite der Stadt, fahren.
       
       Jedes Jahr kommen neue Strecken dazu. Dabei ist der Bau von U-Bahnen in
       Istanbul aufgrund von Topografie und Geschichte extrem schwierig. Nicht nur
       musste der Bosporus durchquert werden, die steilen Hügel zum Meer hinab
       zwingen zu extrem tiefen Schächten, um das Gefälle ausgleichen zu können.
       
       Hinzu kommen die Schätze im Untergrund. Als der Umsteigebahnhof Yenikapı
       gebaut wurde, stieß man auf den ehemals größten, lange verschollenen
       Theodosianischen Hafen, der im Laufe der Jahrhunderte verlandet war. 37 im
       Lehm sensationell gut erhaltene Holzschiffe aus dem 4. Jahrhundert wurden
       von Archäologen aus dem Erdreich geholt, zwei Jahre lang verzögerten sich
       die Bauarbeiten. Auch die Unterquerung der historischen Altstadt brachten
       manche Überraschung aus früher griechischer und römischer Bebauung aus der
       Zeit von vor 2.000 Jahren. Sogar über 8.000 Jahre alte Gräber wurden
       gefunden.
       
       Und trotzdem: Der Metro-Ausbau geht zügig voran. Mit einer für Deutschland
       unvorstellbaren Geschwindigkeit werden neue Strecken eröffnet. Der
       öffentliche Schienennahverkehr hat die Stadt vor dem Verkehrsinfarkt
       gerettet und außerdem entscheidend dazu beigetragen, dass sich die
       Dunstglocke über Istanbul erfreulich aufgehellt hat.
       
       28 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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