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       # taz.de -- Die Wahrheit: Das Süppchen in der Sofaritze
       
       > Manchmal entdeckt man Orte, in denen es dauerregnet. Dann braucht es
       > wenigstens eine Kleinigkeit, die einem über das Elend hinweghelfen kann.
       
   IMG Bild: Die Berlin-Redaktion wünscht allen Berliner*innen alles Gute fürs neue Jahr!
       
       Die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester ist so etwas wie die Sofaritze
       des Jahres. In dieser verwunschenen Woche kriecht durch den Briefkasten
       zurück in unser Leben, was wir längst vergessen und verflossen wähnten. Die
       entfernte Bekannte mit einer Erinnerung, das Finanzamt mit einer Mahnung.
       Und Gengenbach mit dem Rezept für „ein Sauerkraut-Forellensüppchen“.
       Gengenwas?
       
       Ich hatte ja keine Ahnung. Vor zwölf Monaten wusste ich nicht, dass es
       einen Ort namens Gengenbach überhaupt gibt. Und vor ungefähr acht Monaten
       hatte ich es auch schon wieder vergessen. Irgendwann im Frühjahr aber muss
       ich mich auf die Suche nach einem Reiterhof für die Mädchen gemacht haben.
       Mädchen setzen sich mit ihren Ponys gern über die neuesten
       Forschungsergebnisse gewisser Zweige der Soziologie hinweg und wollen
       reiten, striegeln, Ställe ausmisten. Verrückt, ist aber so.
       
       Also buchte ich uns für eine Woche in einem Hof unweit von Gengenbach ein.
       Es regnete nicht etwa sieben Tage durch. Es schiffte, wie es wohl nur im
       Schwarzwald schiffen kann. Während die Mädchen mit rot glühenden Wangen
       ritten, striegelten und misteten, zappte ich mich auf dem Zimmer durchs
       Fernsehprogramm oder stapfte einsam durch den Platzregen die Hügel hinauf,
       wo zwischen Tannen noch ein keltischer Opferstein zu besichtigen ist.
       Tagsüber prasselte der Regen, nachts brüllten im Stall nebenan die Kälber,
       als würden sie erdrosselt. Es war wundervoll. Wahrscheinlich war ich auch
       mal unten in Gengenbach, Maultaschen einkaufen im Nieselregen. Oder
       Weißwein.
       
       Kaum waren seine architektonischen Beschaulichkeiten aus dem Rückspiegel
       verschwunden, hatte sich auch meine milde Erinnerung an Gengenbach
       verflüchtigt. Bis zu dieser Postkarte mit dem Motiv der verschneiten
       Jakobuskapelle „auf dem Bergle“, auf deren Rückseite mir „als kleine
       Abwechslung nach den Festtagen“ ein Forellen-Sauerkrautsüppchen ans Herz
       gelegt wird.
       
       Kein traditionelles Süppchen, wie brandschatzende Schweden es sich 1643
       über den brennenden Trümmern des Städtchens geköchelt haben mochten. Auch
       kein Süppchen, wie es 1799 überlieferungsgemäß Goethe vorgesetzt wurde
       („Genieße mäßig Füll und Segen, Freund, dem Gengenbacher Süppchen aber
       sprich’ maßlos zu!“), obwohl Goethe nie in Gengenbach war. Kein hippes
       Incentive, kein aggressives Pull-Marketing, keine fröhlichen Pop-ups,
       nichts über eingeheimste Preise oder bevorstehende Veranstaltungen, nicht
       einmal eine Suppe – ein Süppchen, und zwar nach der „Rezeptur von Hobbykoch
       Heinz Litterst, Gengenbach“. Das war’s. Der Heinz kennt ein Rezept. Nehmen
       wir doch das. So funktioniert „cutting edge“-Stadtmarketing 2016.
       Zumindest, wenn man mich ansprechen will.
       
       Deshalb ist es ganz gleich, dass die Mädchen sich inzwischen mehr für
       Smartphones als für Pferde interessieren. Im Frühjahr geht’s wieder auf den
       Pferdehof bei Gengenbach. Dieses köstliche Süppchen werden wir gemeinsam
       auslöffeln.
       
       30 Dec 2016
       
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