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       # taz.de -- Kulturlandschaft in Mähren: Lecker und barock
       
       > Alte Bäder, Geburtsstätte der Schuhindustrie, historische Städte, Knödel,
       > Buchteln, Mohnkuchen. Die Region im Osten Tschechiens ist vielfältig.
       
   IMG Bild: Feierlichkeiten im Kloster Velehrad zu Ehren der Ankunft der Schutzheiligen Cyril und Method in Mähren 863
       
       Svickova, Lendenbraten mit Semmelknödeln, ist das tschechische
       Nationalgericht. Mein einziger Bezug zu Mähren. Es ist die Küche meiner
       Mutter, die von dort stammt. Ein erinnerungsgetränktes Geschmackssurrogat,
       das an langweilige Sonntage und mein Lieblingsessen erinnert.
       
       Zum Glück hat die traditionelle Küche Mährens den Untergang
       Österreich-Ungarns, Krieg, Vertreibung, Sozialismus und Postsozialismus
       überstanden. Josef Roths Roman „Radetzkymarsch“, der Schwanengesang auf die
       österreichisch-ungarische Monarchie, spielt auch hier. Einen Trost hält
       Roth im Untergangsszenario des Radetzkymarsches parat: „Alles, was wuchs,
       brauchte viel Zeit zum Wachsen; und alles, was unterging, brauchte lange
       Zeit, um vergessen zu werden.“
       
       Rinderbraten jedenfalls ist nicht vergessen und findet sich beispielsweise
       auf der Speisekarte im Restaurant Losín in Velké Losiny. Das Heilbad in
       Mähren, dessen größte Sehenswürdigkeit eine Büttenpapiermanufaktur ist, die
       wie vor 500 Jahren produziert, wird heute vor allem von tschechischen
       Familien wegen seiner modernen Thermenwasserwelt besucht. Im Restaurant
       Losín gleich neben dem schnuckeligen Papiermuseum gibt es echten
       Lendenbraten in der würzig-deftigen Soße mit dem unverkennbaren sahnigen
       Geschmack. Zum Nachtisch werden Buchteln – aus Hefeteig, mit Quark und Mohn
       gefüllt – gereicht. Spätestens dann ist der Sliwowitz, selbstverständlich
       Marke Jelínek, überfällig.
       
       Die traditionelle tschechische Küche ist mit der süddeutschen, vor allem
       aber mit der österreichischen Küche verwandt. Das gegarte, fettarme
       Rindfleisch in Sahnesoße jedenfalls zerfällt zart auf der Zunge. Man
       braucht nicht viel vom selbst gebrauten Bier, um es herunterzuspülen. Ein
       schmackhaftes Kulturerbe.
       
       Mähren ist das östliche Drittel Tschechiens, eine hügelige, grüne
       Landschaft. Zwischen südmährischen Weinbergen und schlesischen Kohlegruben
       erstrecken sich Talengen entlang der Flüsse. Eine grüne Landschaft, die dem
       Bild vom osteuropäischen Städel entspricht mit barocken Stadtzentren,
       Kirchen und Klöstern. Das gesamte Gebiet Mährens vom Norden bis zum Süden
       kreuzt das Flussbett des Flusses Morava. Er gab Mähren, tschechisch Morava,
       seinen Namen.
       
       In Luhačovice gibt es zum Empfang Schafskäse, Kümmelstangen und Paprika.
       Luhačovice ist ein Kurort. Der größte und älteste von Mähren. Natrium,
       Kalzium, Magnesium, Chlor, Brom und Jod enthält hier das heilende Wasser.
       
       ## Heimkehrer sterben aus
       
       „Früher hatten wir hier viele Deutsche Gäste, vor allem aus der DDR. Sie
       kamen auch nach der Wende organisiert hier her“, erzählt die Kurmanagerin
       Jana Valešová in bestem Deutsch. „Doch sie sterben aus, genauso wie die
       Sudetendeutschen, die nach der Wende ihre alte Heimat besuchten. Heute
       kommen vermehrt Ukrainer und Russen.“
       
       Der Kurpark ist jetzt am späten Nachmittag leer, fast alle Geschäfte sind
       geschlossen. Die Gäste haben sich offensichtlich in die Kurhäuser – viele
       alte Jugendstilvillen – zurückgezogen. „Wir sind fast ausgebucht“,
       behauptet Jana. „Doch um 18 Uhr gibt es Abendessen.“ Unser Abendessen im
       Augustiner, einem renovierten Kloster, ist gehobene Küche in einer modern
       gestylten Oase. Rinderbraten gibt es hier nur als rosiges Filet.
       
       Das Schwefelbad in Ostrožská Nová Ves liegt 30 Minuten von Luhačovice
       entfernt. Die vielen Kreuze am Wegesrand erinnern im säkularsten Staat
       Europas, wie Tschechien genannt wird, an die Zeit der k. u. k. Monarchie im
       Sudetenland. Mähren ist in vielen Teilen eine verfallene Kulturlandschaft.
       Wer weiß schon, dass in diesem abgelegenen Landstrich Sigmund Freud, Gregor
       Mendel, Edmund Husserl oder Leoš Janáček geboren wurden. Rilke und Musil
       besuchten die k. u. k. Kadettenanstalt in Mährisch-Weißkirchen.
       
       Im Schwefelbad Ostrožská Nová Ves kuren gesetzte Herren und Damen. Zum
       Mittag gibt es Gans mit Rotebeetekraut, zum Nachtisch gebratenen Apfel mit
       Baisse und Puddingfüllung. Große Portionen. Das Kuren scheint hier
       großzügig ausgelegt.
       
       Ostrožská Nová Ves liegt im Bezirk Zlín, der Bata-Stadt. Die Schuhfabrik
       Bata wurde 1894 von Tomáš Baťa und seinen Geschwistern Antonín und Anna
       gegründet. Wir fahren vorbei an der ehemaligen Produktionsstätte und den
       Arbeitersiedlungen. „Kollektiv arbeiten – individuell wohnen“ war das Motto
       des taylorisierten Betriebes. Mit funktionalen Gebäuden, einem Krankenhaus,
       einem Warenhaus und dem damals größten Kino profitierte die Stadt von der
       Schuhmassenproduktion.
       
       ## Industrielle Hochburg
       
       Bata industrialisierte die Schuhherstellung. Im Jahr 1909 begann das
       Unternehmen mit dem Export seiner Produkte und expandierte bereits damals
       nach Europa, Nordamerika, Asien und Nordafrika. Jan Bata, der Kollaboration
       mit den Deutschen bezichtigt, für die er massenhaft Militärstiefel
       produzierte, ließ sich noch während des Zweiten Weltkriegs in Brasilien
       nieder. Zlín wurde von den Amerikanern bombardiert, 60 Prozent der
       Fabrikgebäude waren dadurch zerstört. Nach dem Einzug der Russen wurde das
       Unternehmen verstaatlicht.
       
       Zlín hieß nun zu Ehren des Ministerpräsidenten und späteren
       Staatspräsidenten Gottwaldov, die Schuhe wurden unter der Marke „Morgenrot“
       im Ostblock vertrieben. Auch heute ist Zlín mit seinen funktionalen
       Bürohäusern, Plattenbauten, Fabriken und der Tomáš-Baťa-Universität ein
       Industriezentrum. Feudaler wird es in Kroměříž. Der Erzbischofssitz und
       sein Blumengarten, der nach Versailler Vorbild mit Grotten, Labyrinthen und
       einem Pavillon gestaltet wurde, ist Weltkulturerbe. Lebensgroße antike
       Götterstatuen stehen in der 233 Meter langen Kolonnade. Der große
       Marktplatz der Stadt, gesäumt von alten bunten Bürgerhäusern und einem
       Habsburger Barockbrunnen, ist das strahlende Zentrum der Stadt.
       
       „Das ist was anderes als das zentrumslose Berlin“, sagt mein Reisegefährte
       Arkadius sichtlich beeindruckt von dem verspielten Barock. Arkadius
       versucht sich dank polnischer Wurzeln immer wieder an der tschechischen
       Sprache. Eine große Hilfe, wenn man gar nichts versteht, beispielsweise auf
       der Speisekarte des Restaurants Černý Orel direkt am Markplatz von
       Kroměříž.
       
       Arkadius übersetzt Hověží vývar s játrovými knedlíčky– ein Zungenbrecher.
       Die junge Bedienung mit violetten Ecken im schwarzen Haar hilft ihm. Hověží
       vývar s játrovými knedlíčky heißt Rindersuppe mit Leberknödeln. Danach gibt
       es rízek s bramborovou kasí, Schnitzel mit Kartoffelbrei. Der
       Marmeladepfannkuchen, palainky plnné povidly, ist der hiesige
       Kaiserschmarrn.
       
       An den Wänden des Restaurants hängen alte Fotografien der
       Schnapsbrennerfamilie Jelínek. Das Haus gehörte einst ihnen. Mähren ist
       nicht nur für seine Biere und Weine bekannt, sondern auch für den Obstbrand
       Sliwowitz. Rudolf Jelínek aus Vizovice hat ihn berühmt gemacht.
       
       Die Jelínek-Brände sind bis in die letzte Ecke der Tschechischen Republik
       bekannt. Im Jahr 1941 wurde die Brennerei von den Nazi konfisziert, fast
       alle Mitglieder der jüdischen Familie wurden in den Gaskammern von
       Auschwitz ermordet. Heute ist die Firma Jelínek eine Aktiengesellschaft.
       
       ## Wallfahrtsort für Ost und West
       
       In Velehrad trifft sich Ost und West. Es ist ein viel besuchter
       Wallfahrtsort, auch für die orthodoxe Kirche. Hier, im ersten Kloster der
       Zisterzienser in Mähren, begann die Geschichte des Christentums in
       Mitteleuropa. Hier wirkten Kyrill und Method – die aus Thessaloniki
       stammenden Brüder, die die Slawen missionierten.
       
       Am 5. Juli wird in Tschechien der Tag ihres Eintreffens im Großmährischen
       Reich (im Jahr 863) als Nationalfeiertag begangen. Vielleicht sind sie
       deshalb so beliebt im säkularen Tschechien und so bekannt wie Hus der
       Wahrheitssucher, der gegen die sittliche Verwahrlosung der Kirche schon vor
       Luther kämpfte.
       
       Im modernen Klostercafé gibt es Mohnkuchen. Den Echten. Der Kuchen ist
       dünn, rund, wird mit Birnen, Quark oder Mohn belegt und mit viel Streusel
       bedeckt. Er kommt aus der Mährischen Walachei und trägt das Siegel
       „Geschützte geografische Angabe“. Süßes Kulturerbe. Man sollte es nie
       vergessen.
       
       24 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Edith Kresta
       
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