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       # taz.de -- Debatte Kubas Wirtschaftsentwicklung: Die Angst der Comandantes
       
       > Genossenschaften in Kuba sollten das sozialistische Wirtschaftsmodell
       > stützen. Doch die Führung zögert, die nötigen Freiheiten zu gewähren.
       
   IMG Bild: Im März kündigte der scheidende US-Präsident ein Förderprogramm für junge Unternehmen an. Hier wird er begrüßt
       
       Ein „Handbuch für den Aufbau einer Genossenschaft“ gibt es bereits, die
       Gesetzestexte für die Gründung von Genossenschaften sind gedruckt, nur bei
       der Bewilligung konkreter Projekte hapert es. Ganze 22 Genossenschaften
       wurden im Jahr 2015 bewilligt, 2016 dürften es ein paar mehr werden, denn
       laut Kubas Statistikbehörde (ONEI) waren es in den ersten vier Monaten
       immerhin schon 16.
       
       Vom Schneckentempo bei der Einführung des Genossenschaftsmodells, 2011 als
       hoffnungsvolle Ergänzung des sozialistischen Wirtschaftsmodells Kubas
       gepriesen, sind nicht nur die Antragsteller genervt, sondern auch Experten
       wie Camila Piñeiro Harnecker.
       
       Die Wissenschaftlerin vom Studienzentrum der kubanischen Wirtschaft (CEEC)
       gilt als Frontfrau der Genossenschaftsbefürworter und ist die Autorin
       vieler grundlegender Beiträge zu den Chancen des Genossenschaftssektors in
       Kuba – und nicht zuletzt des „Handbuchs für den Aufbau einer
       Genossenschaft“. Das erschien im Mai 2016, einen Monat nach dem Ende des
       VII. Parteikongresses. Dieser, da waren sich die Anhänger des
       Genossenschaftsmodells einig, sollte einen Schub für die cooperativas
       bringen.
       
       ## Ein Dämpfer von Castro
       
       Doch der Enthusiasmus für das Genossenschaftsmodell, das 2011 als zentral
       für die Modernisierung des sozialistischen Wirtschaftsmodells gepriesen
       worden war, ist inzwischen verflogen. Raúl Castro persönlich hat der 2012
       abgesegneten Legalisierung von „Genossenschaften außerhalb der
       Landwirtschaft“ einen Dämpfer verpasst. Es gehe nicht darum, massenweise
       Genossenschaften zu gründen – die Priorität liege vielmehr darauf, die
       bestehenden zu konsolidieren und schrittweise vorzugehen, erklärte der
       Staatschef beim VII. Parteikongress der Kommunistischen Partei im April.
       Ein gutes Jahr zuvor, im Februar 2015, hatte die offizielle Parteizeitung
       Granma Genossenschaften noch als „eine Form des sozialistischen Besitzes“
       definiert, gerade weil „die Genossen die Besitzer“ seien.
       
       Kuba sei in besonderer Weise geeignet für das Genossenschaftsmodell, warb
       die Zeitung und verwies auf entsprechende Erfolge in der Landwirtschaft,
       aber auch im Finanzsektor von Ländern wie Deutschland. Ein Jahr später ist
       von der Aufbruchstimmung wenig zu spüren und unter potenziellen
       Genossenschaftlern wie Josmany Rodríguez aus Santa Marta in der Provinz
       Matanzas herrscht Frustration.
       
       Der 37-Jährige will einen Nachhilfezirkel in seiner Heimatstadt einrichten
       und sich mit einer Handvoll Mitstreiter engagieren. Unter dem Dach einer
       Genossenschaft wäre das theoretisch denkbar. Praktisch ist es aber
       unmöglich, weil die Wartelisten randvoll sind und das Bewilligungsverfahren
       intransparent, kritisiert Rodríguez, der als Selbstständiger
       Schulmaterialien herstellt. Ein Beispiel für die Bereitschaft in der
       kubanischen Gesellschaft, sich lokal und sozial zu engagieren, weshalb das
       Genossenschaftsmodell nicht nur aus ökonomischer Perspektive, sondern auch
       aus sozialer durchaus Charme hat.
       
       ## Es wird hierarchisch gedacht
       
       Das ist auch ein Grund, weshalb viele kubanische Ökonomen für eine
       Implementierung der Kooperativen in die sozialistische Inselökonomie sind.
       Mehr Dynamik, mehr Eigenverantwortung, mehr Gemeinsamkeit im ökonomischen
       Alltag versprechen sie sich davon – kurz: eine Frischzellenkur für die
       latent kriselnde Volkswirtschaft.
       
       Doch dafür, sagen Experten wie Camila Piñeiro Harnecker oder Juan Triana,
       sei es nötig, das Genossenschaftsmodell erst einmal bekannt zu machen, denn
       in Kuba werde hierarchisch gedacht. Seminare, Schulungen,
       Informationsmaterial halten die Wissenschaftler für unerlässlich, doch in
       Havanna ist nicht viel mehr als der Gesetzestext des „Decreto-Ley No. 305“
       über die Genossenschaften außerhalb des Agrarsektors zu kriegen. Ein Indiz
       dafür, dass das Genossenschaftsmodell nicht überall den nötigen Rückhalt
       hat. Ängste vor Kontrollverlusten sind ein wesentlicher Grund dafür. Hinter
       den Kulissen wurde jahrelang diskutiert, ob die Genossen eigenständig
       importieren und exportieren sollen.
       
       Einigen konnte man sich bis zum Besuch Barack Obamas im März diesen Jahres
       nicht. Da kündigte der scheidende US-Präsident ein Förderprogramm für junge
       Unternehmen an. In Kuba wurde dies als Versuch gewertet, Einfluss bei den
       Selbstständigen zu gewinnen und eine neue Oppositionsbewegung aus der Taufe
       zu heben. Daraufhin wurde die ökonomische Reformagenda de facto auf Eis
       gelegt und seitdem hat der Ausbau des Genossenschaftssektors genauso wenig
       Priorität wie die Gründung von kleinen und mittleren Unternehmen.
       
       ## Verordnet von oben
       
       Die Angst vor Kontrollverlusten ist jedoch ein schlechter Ratgeber, wenn es
       darum geht, ein alternatives Wirtschaftsmodell zu entwickeln und Kubas
       Wirtschaft fit für das 21. Jahrhundert zu machen. Das hat jedoch Tradition
       auf der Insel: Schon einmal hat man das Genossenschaftsmodell
       instrumentalisiert, um sich defizitärer staatlicher Unternehmen zu
       entledigen. 1993 wurden die großen staatlichen Landwirtschaftsgüter quasi
       über Nacht in Genossenschaften umgewandelt. Diese in Kuba als „dritte
       Agrarreform“ gepriesene Maßnahme sorgte auf dem Papier für eine immensen
       Schub für den Genossenschaftssektor.
       
       De facto sind die Unidades Básicas de Producción Cooperativa (UBPCs)
       allerdings wenig mehr als Anhängsel großer Staatsbetriebe, die bis heute
       wenig produktiv sind, einen Schuldenberg vor sich herschieben und wenig
       Autonomie bei Einkauf, Anbau und Vermarktung genießen. Zudem verlaufen die
       Entscheidungsstrukturen in diesen Genossenschaften oftmals hierarchisch,
       was der Idee der Genossenschaften widerspricht. Doch die Geschichte scheint
       sich zu wiederholen: In Havanna werden gerade chronisch defizitäre
       Gastronomieunternehmen in Genossenschaften umgewandelt.
       
       Wenig zukunftsweisend ist das alles. „Mehr Mut, compañeros!“ könnte man den
       Verantwortlichen um Raúl Castro zurufen – denn schließlich bieten die
       Genossenschaften vielfältige Optionen zur Partizipation. Die ist
       theoretisch durchaus erwünscht auf der Insel, in der Praxis aber immer noch
       schwer zu entdecken.
       
       26 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Knut Henkel
       
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