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       # taz.de -- Gedenken an Restaurantkritiker: Was bleibt von Onkel Wolfram?
       
       > Als Restaurantkritiker hat Wolfram Siebeck (1928-2016) den Deutschen das
       > Essen beigebracht. Aber was hat er sich selbst gekocht? Ein
       > Gedächtnisessen.
       
   IMG Bild: Er besprach Essen, das Kochen überließ er meist anderen: Wolfram Siebeck, 2009
       
       Wie stand der Kritiker wohl zum Nachsalzen, fragt Vijay Sapre nach dem
       ersten Bissen. „Ablehnend“, schätzt Thomas Platt und greift zum Salz.
       „Siebeck hätte die Gelegenheit genutzt, dieses gedankenlose Nachsalzen im
       Restaurant anzuprangern. Oder, wenn Salz tatsächlich gefehlt hätte, es dem
       Koch angekreidet.“
       
       Wir lachen über den Gedanken, uns nun eine kleine Prise Zorn zuzuziehen.
       Vijay Sapre ist Chefredakteur und Herausgeber von Effilee, Deutschlands
       wichtigstem Kochmagazin, Thomas Platt Restaurantkritiker für namhafte
       deutsche Zeitungen. Aber wir finden, mehr Salz am Essighuhn kann nicht
       schaden.
       
       Was bleibt von Menschen nach ihrem Tod? Private Andenken sind oft die
       kostbarsten. Oft ist es ein Gericht, das Menschen im Gedächtnis hält. Tante
       Maries Marmorkuchen etwa.
       
       Und wie ist das mit dem Mann, von dem es heißt, er hätte den Deutschen das
       Essen beigebracht? Wolfram Siebeck, der im Juni mit 85 Jahren gestorben
       ist, hat viele Titel bekommen. Küchenpapst, Vorkoster der Nation. Zu
       Tausenden stehen seine Kochbücher in deutschen Regalen. Also kochen wir.
       Welches Rezept bleibt von Onkel Wolle?
       
       Auf dem Küchentresen steht der Karton mit dem Einkauf: ein Bressehuhn, eine
       Handvoll Austern und Zanderfilets, ein Hummer, Butter und Eier. Die Küche
       von Vijay Sapre ist unser Geschichtslabor. Die Luft über der Eisenplatte
       auf dem großen roten Molteni-Herd flimmert schon. Vor dem Fenster drängen
       sich zwei Containerschiffe durch den Novemberdunst über der Elbe.
       
       ## „Wenn Madame den Deckel hebt“
       
       Nach einem Glas Champagner und dem Blick in einige von Siebecks Kochbüchern
       werden hier Töpfe und Pfannen gerückt. Auf dem Plan stehen überbackene
       Austern, Essighuhn, Fischklößchen mit Safran-Sabayon auf Chicoree, Hummer
       nature. Rezepte aus über 40 Jahren, entnommen aus dem „Kochbuch für
       Anspruchsvolle“, Siebecks erstem, erschienen 1976, aus „Wenn Madame den
       Deckel hebt“, das als „Kochseminar der bürgerlichen französischen Küche“
       zehn Jahre später herauskam, und „Deutsche Küche“ von 2010.
       
       Sie bilden eine Zeitspanne ab, die kulinarisch Jahrhunderte ausmachen. In
       den 70ern machten die Deutschen Bekanntschaft mit Nudel und Pizza, es war,
       so Platt, die Ära der Mousse au Chocolat. In den 80ern folgte das Tiramisu,
       das Ende der 90er in die anhaltende Phase der Crème brûlée überging.
       Siebecks Rezepte hingegen bewahren über die Jahre Kontinuität. Hummer,
       Schmorhuhn, Fischklößchen. „Man sieht sein großes Faible für die
       französische Bistro-Küche“, sagt Platt.
       
       Während Vijay Sapre das Huhn nach Anweisung des Meisters in acht Teile
       zerlegt (die Keulen werden am Gelenk halbiert), mache ich mich an die
       überbackenen Austern. Die Austern werden ausgelöst, das Muschelfleisch
       kommt kurz in die heiße Pfanne und dann in die Schalen zurück. Das
       Muschelwasser wird mit einem Schuss Sahne und Eigelb legiert, dann über das
       Austernfleisch gegeben und mit geriebenem Gruyère, einem Schweizer
       Bergkäse, bestreut. Dann geht es kurz unter den heißen Grill, um die
       Austern zu überbacken.
       
       ## Die Kraft der Auster
       
       Siebeck ließ dieses Rezept 1976 als Einsteiger-Zubereitung zu. Heute, in
       Zeiten, da Menschen Sushi statt Mettbrötchen als Snack für eine Zugfahrt
       einpacken, scheint es noch mehr aus der Zeit gefallen. Kann die Auster bei
       Käse, Ei und Sahne gegenhalten? Sie kann. Es ist wie ein kleiner Löffel
       Fondue, aus dem eine ozeanische Blase aufsteigt. „Da sieht man die Kraft,
       die eine Auster hat“, meint Vijay Sapre, als wir das kleine Amuse-Geule mit
       einem Schluck Mersault herunterspülen.
       
       Wir müssen uns beeilen, das Essighuhn ist gleich fertig. Thomas Platt
       erzählt von seiner letzten Begegnung mit Siebeck in dessen Zuhause auf
       Schloss Mahlberg an der französischen Grenze, vor eineinhalb Jahren. Das
       Blechschild mit „Dogs welcome“, das ihn und seinen Hund Emma am Eingang
       begrüßte, ist ihm noch in Erinnerung.
       
       Siebeck, selbst Katzenfreund, hatte auch was für Hunde übrig. Platt erzählt
       von der warmen Gastfreundschaft von Frau Barbara und Siebecks
       ausgeblichenen Panama-Hut an der Garderobe. Viele Male waren Literatur und
       Kunst Thema ihrer Treffen gewesen, diesmal sollte es ums Essen gehen und
       das Schreiben darüber. Was in Redaktionen als leichte Kost gilt, erfordert
       Ernst und Strenge. Und doch, sagt Platt, in der Nachschau umgab den
       Kritiker schon eine Aura von Entrücktheit.
       
       Die Kasserole steht auf dem Tisch. Goldbraun liegt das Huhn im
       tomatisierten Essigsud. Wir sind von der ansprechenden Säure des Gerichts
       überrascht. Nichts von der bitteren Firnis, wenn der Rotwein im Coq au vin
       einkocht, und doch charaktervoller als ein Huhn in Weißwein. Interessant,
       wie Brust und Keule ausdifferenziert sind: die Schenkel rustikal-deftiger,
       die Brust saftig mit einer dezenten Estragon-Note.
       
       ## Mit Essig ist nicht zu geizen
       
       Würde man den Fond weiter reduzieren und mit modernen Methoden binden,
       vielleicht Xanthan, meint Sapre, wäre das Gericht ein Kandidat für das
       Gourmetlokal. Siebeck dagegen bekannte noch in der letzten Version seines
       Rezepts, mit Essig nicht zu geizen und überschüssige Säure mit Sahne zu
       mildern.
       
       Hier war er ein Linker, wirft Thomas Platt ein, denn noch eben hatte uns
       die Frage beschäftigt, ob kulinarische Kritik auch politisch gefärbt sein
       kann. „Mit Sahne kocht man, damit alle genug bekommen.“
       
       Es stehen noch die Fischklößchen aus. Wir schmunzeln über Siebecks
       Anleitung, kochendes Wasser auf die zarten Bällchen aus Zanderfarce zu
       schütten. Sie gleiten vorsichtig in den Sud. Noch eine Flasche Wein kommt
       auf den Tisch und der Hummer, diesmal nicht à la Siebeck, sondern à la
       Sapre, mit Kimchi-Mayonaise. Draußen legt sich die Nacht über die Elbe, die
       Dunkelheit suppt ins Dachgeschoss.
       
       1 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jörn Kabisch
       
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