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       # taz.de -- Israelisch-palästinensische Beziehungen: Fruchtsalat für eine Nacht
       
       > Die Jugend war die Hoffnung von Schimon Peres. Aber gegenseitige
       > Annäherung ist für jüdische und arabische Jugendliche richtig Arbeit.
       
   IMG Bild: Der Sturz von den Stadtmauern ins Meer: Etwas schwieriger scheint die Annäherung der jungen Leute
       
       Wenn Erel und Saed zur Schule gehen, können sie das Meer riechen. Sie in
       der Neustadt von Akko, er in der Altstadt. Die Luft ist feucht und salzig.
       Als wäre das Meer ein frisch gewaschenes Laken, das jemand zum Trocknen
       aufgehängt hat.
       
       Die Luft ist selbst dann klar, wenn die Wälder von Haifa und Nazareth
       brennen und das Land mit einer Rauchwolke überziehen. Wenn die Stimmung
       vergiftet ist, weil wieder Verdächtige festgenommen wurden, arabische
       Jugendliche wie Saed, die einen Teil der Feuer absichtlich gelegt haben.
       Was im Winter 2015 die Messerintifada war, ist im Winter 2016 die
       Feuerintifada. Aber jeder Morgen in Akko riecht wie ein Neubeginn.
       
       Erel ist Jüdin, Saed ist Muslim. Sein Unterricht findet auf Arabisch statt,
       ihrer auf Hebräisch. Wenn sie in der Schule sitzen, liegen 1,1 Kilometer
       zwischen ihnen. 14 Minuten zu Fuß. Fünf Minuten mit dem Auto. Eine direkte
       Buslinie gibt es nicht.
       
       Obwohl die Küstenstadt am Mittelmeer recht klein ist, gibt es unsichtbare
       Grenzen. Die Altstadt gehört den Arabern, die Neustadt den Juden. Die Juden
       kommen in die Altstadt, wenn sie Hummus essen wollen. Die Araber besuchen
       manchmal den McDonald’s in der Neustadt. Sonst bleibt man unter sich. In
       einem Land, in dem sich die Völker seit hundert Jahren bekämpfen,
       mindestens, ist der einzige Weg, miteinander zu leben, offenbar die
       Ignoranz.
       
       Aber Erel und Saed kennen sich. Und das liegt auch an Schimon Peres.
       Schimon Peres ist in diesem Jahr gestorben. Er war einer der prägendsten
       Politiker, die Israel je hatte. Er hat den Staat mitgegründet, war
       Integrationsminister, Verteidigungsminister, Außenminister, zweimal
       Ministerpräsident und schließlich Staatspräsident. 1994 bekam er zusammen
       mit Jassir Arafat und Jitzhak Rabin den Friedensnobelpreis. Nie lag eine
       Lösung des Konflikts näher als damals. Aber dann wurde Rabin ermordet.
       Ariel Scharon ging auf dem Tempelberg spazieren und löste damit die Zweite
       Intifada aus. Es folgten blutige Jahre mit vielen Toten, viele Kriege:
       Libanon, Gaza.
       
       ## Eine Gemeinsamkeit: die Jogginganzüge
       
       Schimon Peres hat an den Frieden geglaubt. Vor zwanzig Jahren gründete er
       das Peres Center for Peace. Peres war überzeugt, dass Technik helfen würde,
       und entwarf Programme wie „Bridges for Peace“: Zwei Schulklassen sollten
       per Videochat miteinander sprechen, über ihren Alltag, auch wenn sie nur
       fünf Minuten voneinander entfernt wohnen. Nach einem Jahr sollten sie sich
       treffen.
       
       Das Feuer glomm noch in Haifa, wenige Kilometer von Akko entfernt, als Erel
       und Saed im November 2016 sich auf den Weg zum See Genezareth machten. Am
       Abend zuvor waren weitere arabische Jugendliche verhaftet worden. Die
       Stimmung war angespannt. Die Mediatoren des Seminars berieten sich per
       Telefonkonferenz: Sollten sie über die Feuer sprechen? Nach langer
       Diskussion entschieden sie: Nein, sie würden warten, bis die Jugendlichen
       damit anfingen.
       
       Die jüdischen Schüler hatten Angst vor dem Treffen. Klauen die? Was denken
       die über uns? Über den Holocaust? Sind die mit Attentätern verwandt?
       
       Und auch die arabischen Jugendlichen fühlten sich unwohl: Halten die uns
       für Terroristen? Können sie unsere Kultur akzeptieren? Waren ihre
       Geschwister in Gaza und haben unsere Cousins umgebracht?
       
       Im Seminarraum setzen sie sich getrennt voneinander. Dabei sind sie rein
       äußerlich nicht voneinander zu unterscheiden. Niemand trägt Kopftuch oder
       Kippa. Die Haare der Mädchen fallen lang und lockig, viele tragen
       Jogginganzüge, meistens schwarz, meistens Adidas.
       
       ## Mit verbundenen Augen
       
       Die Mediatorin ist Araberin, sie spricht Hebräisch und Arabisch. Sie teilt
       die Jugendlichen in Gruppen ein, die sie nach Früchten benennt, die in
       beiden Sprachen gleich lauten. Sie ruft: Erdbeere. Dann: Wassermelone. Und:
       Fruchtsalat. Die Jugendlichen sollen sich mischen.
       
       Aber es klappt nicht. Nach dem Spiel sitzen wieder Araber neben Arabern und
       Juden neben Juden. Zwei jüdische Jungs riechen gegenseitig an ihren
       Achseln. Die arabischen Mädchen sitzen auf ihren Händen. Ein jüdisches
       Mädchen bittet einen jüdischen Jungen, auf ihr Handy aufzupassen, als es
       auf Toilette geht.
       
       Die Mediatorin verbindet Saed die Augen. Er soll blind ein Puzzle
       zusammensetzen – mithilfe der Gruppe. Alle rufen durcheinander. Bis Niw
       sich neben ihn setzt, ein jüdischer Junge, der in der israelischen
       Jugendfußballmannschaft spielt. Er sagt ihm auf Hebräisch, was er tun soll.
       Saed versteht ihn. Er will später mal Übersetzer werden. Er kann das Puzzle
       zusammensetzen und wird ein bisschen rot, als er die Augenbinde abnimmt.
       „Danke für eure Kooperation“, sagt die Mediatorin.
       
       Erel sagt später, dass das für sie der schönste Moment des Seminars war.
       
       ## Die Sprache ist ein Problem
       
       Die Sprache ist ein Problem. Die jüdischen Jugendlichen werden sich immer
       wieder beschweren, dass die Mediatorin länger Arabisch als Hebräisch
       spricht. Dabei erwarten alle, dass die Gespräche auf Hebräisch geführt
       werden – obwohl das an der arabischen Schule erst die zweite Fremdsprache
       nach Englisch ist. An der jüdischen Schule wird Arabisch zwar unterrichtet,
       aber niemand spricht es.
       
       Als die Jugendlichen in Kleingruppen von sich erzählen sollen, sitzen die
       arabischen Mädchen neben den jüdischen Jungs und schweigen. Sie finden
       keine gemeinsame Sprache. Irgendwann gehen zwei von ihnen vor die Tür; eine
       sagt, sie hat Kopfschmerzen, die andere: Fieber. Erel spielt mit ihren
       langen braunen Haaren und schaut ihnen nach.
       
       Saed sitzt zwischen den jüdischen Jungs, die ihn „Prinz“ nennen, und
       unterhält sich auf Hebräisch. Nach dem Seminar laufen sie zusammen zum See
       hinunter.
       
       Niemand hat über das Feuer gesprochen. „Alle drehen durch, sobald es um
       Politik geht“, sagt Erel. „Und fast immer eskaliert die Diskussion. Deshalb
       lassen wir es lieber.“
       
       „Es ist besser, wenn wir das Thema meiden“, sagt Saed. „Wir wollen den
       Juden unseren Respekt zeigen.“
       
       „Außerdem sind wir Jugendliche“, sagt ein anderes Mädchen, eine äthiopische
       Jüdin. „Wir wollen einfach Spaß haben. Keiner hat hier Lust auf Politik.“
       
       Nach dem Abendessen tragen zwei Jungs eine Musikbox von Saal zu Saal. Es
       läuft HipHop. Alle jubeln, ziehen mit an den See und tanzen. Es wird eine
       lange Nacht. Es gibt Streit – und auch eine Kissenschlacht. Um vier gehen
       die letzten schlafen.
       
       Am nächsten Morgen sind alle müde. Es sind kaum noch arabische Mädchen im
       Seminar, die meisten sitzen im Garten oder liegen auf ihrem Zimmer. Krank,
       sagen sie. Die jüdischen Jugendlichen sind sauer. Sie sind auch müde, aber
       sie wollen das Seminar gemeinsam beenden.
       
       Beim Mittagessen sitzen sie wieder getrennt. Als sie in die Busse steigen,
       sind die Feuer in Haifa fast gelöscht.
       
       Zwei Wochen später sagen die Jugendlichen, dass das Seminar toll war. Dass
       sie zusammen gefeiert und sich angefreundet haben. Sie geben aber auch zu,
       dass sie keinen Kontakt mehr haben. Sie haben eine Runde Videochat
       versucht, eine Woche später. Aber es gab technische Probleme. Die
       Verbindung konnte nicht hergestellt werden.
       
       ## Die Minimalvision heißt Koexistenz
       
       Erel sitzt einen Tag später in der Morgensonne auf dem Schulhof. Vom Meer
       kommt eine leichte Brise. Ihr hat das Seminar gefallen, sagt sie. Bei einem
       ähnlichen Projekt hat sie auch arabische Freunde gefunden. „Ich mag sie
       sehr, sehr gerne.“ Dann schaut sie auf den Boden. „Aber ich glaube
       trotzdem, dass uns dieses Land gehört.“ Ihre Stimme ist jetzt sehr leise.
       „Ich denke viel darüber nach. Und ich weiß auch, dass das keine besonders
       tolle Meinung ist. Es gibt Menschen, die glauben, dass sie mit uns leben
       sollten. Aber ich glaube nicht, dass das gut ist. Fast jedes Jahr gibt es
       Anschläge. Das ist sehr schwierig für uns. Wir haben nur dieses eine Land.
       Sie haben so viele.“
       
       Manchmal diskutiert sie mit ihren arabischen Freunden darüber. Aber immer
       gibt es Streit. Deshalb schweigt sie lieber.
       
       1,1 Kilometer weiter südlich sitzt Saed etwas später in derselben
       Morgensonne und weiß nicht, ob er Israeli ist. „Wenn mich ein Jude fragt,
       sage ich, dass ich Israeli bin. Wenn mich ein Türke fragt, sage ich, dass
       ich Palästinenser bin.“ Ihm ist klar, dass er als Araber in einem jüdischem
       Staat nur leben kann, wenn er sich unauffällig verhält. Die Frage nach
       seiner Identität ist deshalb kompliziert. Er weiß nur: „Ich will meine
       Kultur behalten.“
       
       Erel und Saed haben sich eine Blase geschaffen, in der sie nebeneinander
       existieren können. „Koexistenz“ gilt in Israel als anzustrebender
       Idealzustand, von Integration spricht niemand. Das Ziel ist, so formuliert
       es eine Mitarbeiterin im Peres Peace House, dass sich Menschen aus diesen
       Blasen grüßen, wenn sie einander begegnen – und nicht aufeinander schießen.
       Eine Minimalvision.
       
       Und dann läuft es vielleicht wie in einer Paartherapie. Es gibt Probleme,
       die sich nicht lösen lassen. Man weiß, dass sie da sind, aber man ignoriert
       sie: Die arabischen Flüchtlinge, die zurück in ihre Häuser wollen, in denen
       jetzt Juden wohnen. Die jüdischen Siedlungen, die das Westjordanland
       zerschneiden. Oder Jerusalem, die auf ewig ungeteilte Hauptstadt des
       jüdischen Staates – in der so viele muslimische Heiligtümer stehen. Der
       jüdische Staat, der zu einem Fünftel aus Arabern besteht. Man konzentriert
       sich auf das, was geht: Einander grüßen, zusammen essen, miteinander
       tanzen.
       
       Wenn ein Problem keine Lösung hat, ist es vielleicht kein Problem, sondern
       ein Fakt, hat Schimon Peres gesagt. Etwas, das sich nicht lösen lässt, aber
       mit dem man sich über kurz oder lang arrangieren kann.
       
       2 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Steffi Unsleber
       
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