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       # taz.de -- taz-Serie Verschwindende Dinge (4): „Kohlen sind mehr als Old School“
       
       > Schon sein Großvater hat in Kreuzberg Kohlen ausgefahren. Doch jetzt
       > lohnt es sich nicht mehr, sagt Christian Nitsche. Er gibt dem Kohlehandel
       > noch 6 Jahre.
       
   IMG Bild: So ist's ja auch bequemer: Mit Kohle heizt kaum noch einer in Berlin
       
       Vorbei. Christian Nitsche hat mit dem Kohlenhandel abgeschlossen; der
       hemdsärmelige Typ mit dem Bürstenhaarschnitt ist Pragmatiker. Auf die alten
       Tage angesprochen, kommt er aber doch ins Erzählen und kramt ein gerahmtes
       Bild mit den Schwarzweißfotografien des alten Kohlengeschäfts seines
       Großvaters hervor. Pferdefuhrwerke und bündelweise gestapelte Briketts sind
       darauf abgebildet. Dann schweift er in die Vergangenheit. 
       
       „Den Kohlenhandel Machule habe ich 1997 von meinen Eltern übernommen. Das
       Geschäft hat schon mein Großvater betrieben. Am 29. Februar 2016 haben wir
       den Laden zugemacht. In den letzten Jahren hatten wir am Tag noch 60 Euro
       in der Kasse. Da haben wir gesagt: Das tun wir uns nicht an, dann machen
       wir halt zu.
       
       In den besten Zeiten haben wir im Jahr 700 Tonnen Kohlen verkauft. Im
       letzten Jahr waren es vielleicht noch 250 Tonnen. Das hat sich einfach
       nicht mehr gerechnet. Kachelöfen werden in den nächsten Jahren definitiv
       verschwinden. Die Diskussion über Feinstaub ist ja da. Ich schätze mal, in
       fünf bis sechs Jahren wird es aufgrund der ganzen Umweltrichtlinien auch
       gar keine Briketts mehr geben. Die Produktion lohnt sich nicht mehr.
       
       Und machen wir uns nichts vor: Mit Kohlen zu heizen ist auch mehr als Old
       School. Die Zeit lässt sich nicht aufhalten. Es gibt kaum noch reine
       Kohlenhändler. Das ist ein Beruf wie der Schriftsetzer, der mit der
       Digitalisierung überflüssig wurde. Das ist ein auslaufendes
       Geschäftsmodell. Man kann diesen Prozess zwar ein wenig hinauszögern, aber
       ich gebe dem Kohlenhandel vielleicht noch sechs Jahre.“
       
       ## Kohlen aus dem Baumarkt
       
       Christian Nitsche ist mit dem Kohlenhandel aufgewachsen. Als Kind ist er im
       Lastwagen mitgefahren, als Student hat er sich im Winter sein Geld mit
       Kohlenaustragen verdient. Man könnte annehmen, dass er den Familienbetrieb
       mit viel Wehmut geschlossen hat. Doch Nitsche winkt ab. Als er am letzten
       Tag auf dem leeren Grundstück stand, habe es ihn kurz geschmerzt, dieses
       Generationengeschäft aufzugeben. Aber traurig sei er nicht gewesen, das Rad
       der Zeit drehe sich eben. 
       
       „Auf dem Wärmemarkt ändert sich gerade alles. Die Energiewende ist da, in
       Berlin werden alternative Heizsysteme und Fernwärme stark ausgebaut, und
       die neuen Emissionsschutzverordnungen haben dafür gesorgt, dass die alten
       Öfen rausmussten. Mit Braunkohle zu heizen passt einfach nicht mehr in die
       heutige Zeit. Es gibt doch auch keinen Winter mehr – drei Wochen
       Minusgrade, so wie das bei meinen Eltern noch war. Der Kohlenhandel läuft
       eigentlich erst ab Minusgraden.
       
       Dazu kommt, dass in unserem Liefergebiet in Kreuzberg und Neukölln viel
       saniert wurde. Früher hatten wir sehr viele türkische Kunden, und auf
       einmal kamen Kunden in den Laden und haben Englisch gesprochen. Das waren
       junge Leute aus Frankreich, Spanien und England, die für drei Monate eine
       Wohnung gemietet haben oder ein Auslandssemester gemacht haben.
       
       Mit der Sanierung wurden sukzessive die Kachelöfen rausgerissen, damit sind
       uns viele Kunden weggebrochen. Die alte Kundschaft ist entweder weggezogen
       oder gestorben. Da kommt ja auch niemand mehr nach.
       
       Das Genick hat uns aber gebrochen, dass die Lebensmittelketten und
       Baumärkte angefangen haben, massiv mit Kohlen zu handeln. Die Baumärkte
       haben die Kohlen zu dem Preis verkauft, zu dem wir sie bei Vattenfall
       eingekauft haben – zum Teil sogar billiger. Manchmal haben wir unsere
       Kohlen sogar vom Baumarkt geholt. Da hört’s dann wirklich auf.“
       
       ## Ein knochenharter Job
       
       Ein wenig Nostalgie schwingt aber trotzdem mit, wenn Christian Nitsche von
       den alten Zeiten des Kohlenladens in der Reichenberger Straße erzählt. Die
       Stammkunden kennt er noch alle beim Namen; auch jene, die, bald
       hundertjährig, schon vor Jahren gestorben sind. 
       
       „Frühmorgens um sechs hat immer ein Lkw die Kohlen geliefert. Wir haben sie
       ausgeladen und auf den Hof gestapelt. Unser Mitarbeiter hat sie sich dann
       auf den Wagen gepackt und den Leuten in den Keller oder in die Wohnung
       getragen. Ein Paket wiegt 25 Kilo, zwei hat er immer genommen, also 50 Kilo
       auf dem Rücken. So hat er am Tag vier Tonnen und mehr allein weggebracht.
       Unsere Kunden haben ihn auf einen Kaffee eingeladen, und in den
       Wintermonaten brauchte er sein Gehalt nicht anzurühren, weil man vom
       Trinkgeld gut leben konnte.
       
       Wir hatten zeitweise zwei Mitarbeiter, die haben am Tag zehn bis zwölf
       Tonnen weggebracht. Das ist ein knochenharter Job. Heute findet man
       niemanden mehr, der diese Arbeit macht.
       
       Ab 2005 haben die Leute dann im Baumarkt ihre Briketts gekauft und mit der
       Bundesemissionsschutzverordnung von 2010 kam die Verschärfung dann
       sukzessive. Ich wusste schon vorher, dass es sich nicht lohnt, noch viel
       Zeit in den Kohlenhandel zu stecken, weil es sowieso irgendwann vorbei ist.
       Deshalb habe ich mich auf mein Ingenieurbüro konzentriert, das ich
       gleichzeitig betrieben habe. Jetzt bin ich in der Raumluft- und
       Trinkwasserhygiene tätig.
       
       Das Kohlengeschäft zu schließen war die richtige Entscheidung. Das hat auch
       nicht mehr zu meinem neuen Arbeitsumfeld gepasst: Energieberatung auf der
       einen Seite, und nebenbei habe ich einen Kohlenhandel laufen. Dass wir
       überhaupt so lange gemacht haben, liegt an der Insellage vom ehemaligen
       Ost- und Westberlin, wo es noch viele Kohlenöfen gab. In Westdeutschland
       sind die Kachelöfen schon vor 30 Jahren verschwunden.“
       
       3 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Elisabeth Kimmerle
       
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