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       # taz.de -- Jemens humanitäre Katastrophe: Der vergessene Krieg
       
       > Ronald Kremer koordiniert die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen im Jemen. Er
       > arbeitet in der Stadt Taiz. „Es ist ein humanitäres Desaster“, sagt er.
       
   IMG Bild: Unwirkliche Kriegsspiele: Kinder erklimmen einen Panzer der Regierungstruppen in der Stadt Taiz
       
       Kairo taz | Die schieren Zahlen in dem seit eineinhalb Jahren andauernden
       Krieg im Jemen sind erschreckend. Die Zahl der Menschen, die dort dringend
       Hilfe benötigen, ist höher als in Konflikten in Syrien und im Irak. Fast 19
       Millionen Jemeniten, also 70 Prozent der Bevölkerung, können sich kaum
       selbst versorgen und bräuchten internationale Hilfe, sagt das UN-Büro für
       humanitäre Angelegenheiten.
       
       Mehr als 14 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu ausreichenden
       Lebensmitteln, sauberem Wasser und angemessenen hygienischen Verhältnissen.
       Nach UN-Angaben sind 3,3 Millionen Kinder und Frauen unterernährt. Über
       7.000 Menschen, schätzt die UN, sind in dem Konflikt umgekommen, fast
       40.000 wurden verletzt.
       
       Der holländische Arzt Dr. Ronald Kremer arbeitet in der jemenitischen Stadt
       Taiz in einer Frauen- und Kinderklinik und koordiniert die
       Nothilfeprogramme für Ärzte ohne Grenzen im Jemen. In den letzten zwei
       Jahren war er sechsmal vor Ort im Einsatz. „Es ist ein Desaster hier und
       ich muss sagen, ich bin auch sehr pessimistisch, nachdem ich jetzt zwei
       Jahre in diesem Land Erfahrung gesammelt habe. Die Situation wird einfach
       nicht besser“, sagt er in einem Telefongespräch mit dertaz.
       
       Über 600 medizinische Einrichtungen wurden in diesem Krieg vollkommen
       zerstört oder beschädigt. Artilleriebeschuss und Schießereien sind Alltag.
       „Gerade mal 15 Minuten ist es her, da gab es einen Artilleriebeschuss in
       der Nähe. Wenn man die Menschen um sich herum ansieht, scheint das alles
       ganz normal, Autos sind auf der Straße. Gleichzeitig spürt man, dass der
       Krieg nicht weit weg ist. Das ist eine sehr unwirkliche Situation“,
       schildert Kremer die Lage in der Stadt. Im Hintergrund sind sogar während
       des Gesprächs Schüsse zu hören.
       
       ## Viele schwere Waffen im Einsatz
       
       Vor Kurzem kam einer der Mitarbeiter des Krankenhauses beim
       Artilleriebeschuss eines Marktes ums Leben. „Da kommt der Krieg zu dir nach
       Hause“, sagt Kremer, der zuvor meist für „Ärzte ohne Grenzen“ in
       afrikanischen Ländern tätig war. Der Krieg im Jemen, einem der ärmsten
       Länder der Welt, unterscheide sich von diesen Kriegen vor allem dadurch,
       dass viele schwere Waffen im Einsatz seien, vergleicht er.
       
       Das Ergebnis erlebt er dann in seiner Arbeit im Krankenhaus. „Wir erleben
       in den Krankenhäusern furchtbare traumatische Wunden. Wir haben auch viele
       Verletzte durch Scharfschützen. Es ist einfach unglaublich, wie massiv
       diese Bombardierungen und dieser Raketenbeschuss sind“, erzählt er.
       
       Aber die Kriegsverletzungen seien nicht die einzigen Folgen, die er in
       seinem medizinischen Alltag erlebt. „Aber dann trifft man auch diese vielen
       chronischen Krankheiten, wie zum Beispiel Diabetes“, beschreibt er. Es ist
       ein Krieg in einem ohnehin unterversorgten Land, in dem Menschen kaum
       Zugang zu Medikamenten oder Behandlung haben. „Das“, sagt der Arzt, „sind
       die versteckten Konsequenzen des Krieges“. Die Ärzte ohne Grenzen haben
       auch 200 unterernährte Kinder in Behandlung.
       
       ## Nachts trauen sich die Frauen nicht raus
       
       Oft ist das Problem für die Patienten, überhaupt die medizinische
       Einrichtung sicher zu erreichen. „Die Frauen kommen zu den Geburten in
       unser Krankenhaus, denn sie wissen, dass wir bei Komplikationen
       Kaiserschnitte machen können. Aber nachts, wenn die Wehen beginnen, trauen
       sich die Frauen nicht zu kommen, sondern erst am Morgen, wenn es draußen
       sicherer ist.“ Kremer macht am Telefon eine Pause: „Manchmal ist dann schon
       zu spät.“
       
       Einige der Fälle gehen selbst dem krisenerfahren Arzt unter die Haut. „Erst
       gestern habe ich mit einer Frau im Krankenhaus gesprochen. Sie hatte gerade
       eine Frühgeburt. Sie erzählte, dass ihr Mann vor wenigen Monaten im Krieg
       umgekommen sei. Sie war Witwe und Mutter von vier Kindern und hat gerade
       ein Kind früh geboren. Das war auch sein Kind – aber er ist nicht mehr da.“
       Das sei ihm sehr nahe gegangen.
       
       Kremer ist auch frustriert über die internationale Berichterstattung.
       Sicher, der Jemen sei weit weg und habe weniger Konsequenzen für die
       Menschen in Europa. „Es ist“, sagt er, „als hätte man diesen Krieg im Rest
       der Welt einfach vergessen.“
       
       7 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Karim El-Gawhary
       
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