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       # taz.de -- Essay zur Obdachlosigkeit in Deutschland: Den Zusammenhalt verzocken
       
       > Immer mehr Menschen haben keine Wohnung. Immer mehr von ihnen sind
       > Akademiker. Doch die Regierung verharmlost das Problem.
       
   IMG Bild: Auf der Straße zu landen ist gar nicht so schwer – dank Miet- und Steuerpolitik
       
       Obdachlosigkeit ist neben dem Hungern, Dursten, Frieren und Fehlen
       medizinischer Grundversorgung die krasseste Form der Armut, wobei die
       genannten Leiden oft miteinander verbunden sind. Auch in Deutschland gibt
       es solch existenzielle Not. Umso mehr erstaunt die Verharmlosung des
       Problems durch Regierungsvertreter: „Den Menschen in Deutschland ging es
       noch nie so gut wie im Augenblick“, verkündete die Bundeskanzlerin in der
       jüngsten Haushaltsdebatte. Undifferenzierter und oberflächlicher kann man
       die soziale Lage der Bevölkerung kaum charakterisieren.
       
       Nach einem deutlichen Rückgang während der 1990er-Jahre existierten 2014
       laut Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in
       Deutschland wieder mehr als 335.000 Wohnungslose, darunter 29.000 Kinder
       und Minderjährige. 39.000 Menschen lebten dem Dachverband der
       Wohnungslosenhilfe zufolge auf der Straße.
       
       Darunter befinden sich immer weniger Berber oder Trebegänger, wie die
       „klassischen“ [1][Obdachlosen] genannt wurden. Stattdessen steigt die Zahl
       der Mittelschichtangehörigen, von (Solo)selbstständigen, Freiberuflern und
       akademisch Gebildeten, die aufgrund sozialer Probleme „in die Gosse“
       abrutschen.
       
       Neuere Zahlen dazu gibt es nicht. Statistiker/innen erfassen wahrscheinlich
       eher, wie viele Bergziegen und Zwerghasen es hierzulande gibt, als dass sie
       verlässliche Angaben darüber liefern, wie viele Menschen ohne Wohnung
       dastehen. Umso notwendiger ist es, für eine solide Datengrundlage zu
       sorgen, die es bisher nur in den wenigsten Bundesländern und Kommunen gibt.
       Nur wenn offizielle Statistiken zum Problem der Wohnungslosigkeit
       existieren, kann man die zuständigen Behörden und die politisch
       Verantwortlichen zwingen, es mit der erforderlichen Konsequenz anzugehen.
       
       Seit der Vereinigung von BRD und DDR sind mindestens 290 Obdachlose der
       Kälte zum Opfer gefallen, ohne dass die (Medien)öffentlichkeit mehr als nur
       sporadisch Notiz von den Tragödien genommen hätte, die sich auf den Straßen
       unseres reichen Landes abspielen. Nach wie vor werden die Obdachlosen in
       vielen Städten aus dem öffentlichen Raum verdrängt.
       
       Auf der Straße lebende Menschen sind einem rigiden und repressiven
       Armutsregime ausgesetzt, für das Polizeirazzien, Platzverweise,
       Aufenthaltsverbote und Schikanen privater Sicherheitsdienste stehen.
       
       Räumungsklagen und Zwangsräumungen mehren sich. Trotzdem spricht kaum
       jemand über Wohnungsnot, die vielen Menschen droht, wenn man dieser Gefahr
       nicht entschlossener als bisher entgegenwirkt. Die überraschende Schließung
       ihres Betriebes, die Kündigung des Arbeitsverhältnisses sowie Ehekonflikte
       und Suchterkrankungen sind Auslöser, nicht jedoch Ursachen der zunehmenden
       Wohnungslosigkeit. Diese müssen in den bestehenden Gesellschaftsstrukturen,
       den herrschenden Eigentumsverhältnissen und sich häufenden
       sozioökonomischen Krisenerscheinungen gesucht werden.
       
       Wenn Wohnungen als Waren be- und gehandelt werden, können Menschen mit
       keinem oder geringem Einkommen auf dem Markt nicht mithalten. Seit geraumer
       Zeit wird Arbeit für Unternehmer immer billiger, Wohnraum für Niedriglöhner
       aber immer teurer. Während die Reallöhne mehr als ein Jahrzehnt lang
       sanken, stiegen die Immobilienpreise und die Mieten – jedenfalls in den
       Ballungszentren, bevorzugten Stadtlagen und Boomtowns. Eine überbordende
       Nachfrage bedeutet letztlich Mietmonopoly, also Klassenkampf auf dem
       Wohnungsmarkt.
       
       Mit einer halbherzigen „Mietpreisbremse“, wie sie die Große Koalition nach
       langem Zögern eingeführt hat, ist das Problem nicht zu lösen. Es resultiert
       aus dem heutigen Finanzmarktkapitalismus, dessen Hauptakteure das
       Immobiliengeschäft erobert haben. Als fast überall städtische
       Wohnungsbaugesellschaften privatisiert wurden, kauften
       Private-Equity-Firmen („Heuschrecken“) massenhaft kommunale
       Wohnungsbestände auf, die für sie attraktive Spekulationsobjekte
       darstellten. Vormals preisgünstige Mietwohnungen wurden teilweise
       systematisch heruntergewirtschaftet, saniert und zu teuren
       Eigentumswohnungen gemacht. In den Metropolen wurden geeignete Viertel dem
       Prozess der Gentrifizierung unterworfen.
       
       Da viele Kapitalanleger im Gefolge der globalen Finanz- und
       Wirtschaftskrise weitere Bankpleiten und Börsenzusammenbrüche fürchteten,
       wurde „Betongold“ immer beliebter, weshalb die Immobilienbranche boomt.
       Mittlerweile gehört der von Deutsche Annington in Vonovia umbenannte
       Immobilienriese zu den 30 wertvollsten börsennotierten Firmen im DAX.
       
       Die durch zahlreiche Arbeitsmarkt-, Gesundheits- und Rentenreformen
       verschiedener Bundesregierungen vorangetriebene US-Amerikanisierung des
       Sozialstaates führt zwangsläufig zu einer US-Amerikanisierung der
       Sozialstruktur (Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich), einer
       US-Amerikanisierung der Stadtentwicklung (Spaltung der Großstädte in
       Luxusquartiere und Armengettos) und nicht zuletzt zu einer
       US-Amerikanisierung des sozialen Klimas (Reichtum gilt als Belohnung für
       „Leistungsträger“, Armut als gerechte Strafe für „Leistungsverweigerer“).
       
       ## Der Staat fördert die Segregation
       
       Mittlerweile ist der deutsche Wohlfahrtsstaat so weit demontiert, dass er
       selbst Wohnungslosigkeit produziert. Etwa durch das Aus- und Umzugsverbot
       für unter 25-jährige Hartz-IV-Bezieher, die rigide Sanktionspraxis für
       diese Personengruppe (völlige Streichung des Arbeitslosengeldes II und der
       Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach der zweiten Pflichtverletzung)
       sowie durch die Zulassung einer „Gesamtangemessenheitsgrenze“ für die
       Kosten der Unterkunft und Heizung.
       
       Die kann Hartz-IV-Bezieher veranlassen, ihre bisherige Wohnung in einem
       gutbürgerlichen Stadtviertel aufzugeben und dorthin zu ziehen, wo die
       Bruttowarmmieten niedriger sind. Dadurch leistet man einer sozialräumlichen
       Segregation der armen Bevölkerung Vorschub, die sich in Großstädten
       ansatzweise seit einiger Zeit beobachten lässt.
       
       Statt der Wohnungslosigkeit bekämpft der deutsche Staat bisweilen manchmal
       lieber die davon Betroffenen, denen ohnehin nur sehr geringe Ressourcen und
       wenige Unterstützungsmaßnahmen wie Notunterkünfte, Nachtasyle oder
       Kältebusse zur Verfügung stehen.
       
       Wenn aber neben Geflüchteten nicht auch immer mehr Einheimische in
       Zeltstädten und Notquartieren leben sollen, muss der Staat einen steuer-,
       sozial- und wohnungspolitischen Kurswechsel vornehmen.
       
       ## Große Betriebsvermögen müssen besteuert werden
       
       Der soziale Wohnungsbau leidet unter einer politisch herbeigeführten
       Schwindsucht: Gegenwärtig fallen jährlich viermal so viele Wohnungen aus
       der Belegungsbindung heraus wie neu hinzukommen. Um die Jahrtausendwende
       haben viele Großstädte ihren kommunalen Wohnungsbestand, dem neoliberalen
       Zeitgeist gehorchend, zu Spottpreisen an private Investoren verkauft, die
       damit hohe Profite machen, und sich auf diese Weise selbst der Möglichkeit
       beraubt, eine zielgerichtete Stadtentwicklungspolitik zu machen und die
       Wohnungsversorgung finanzschwacher Bevölkerungsgruppen zu sichern.
       
       Ohne eine grundlegende Wende in der Stadtentwicklungs- und Wohnungspolitik
       wird die Obdachlosigkeit weiter zunehmen. Nötig wären eine Wiederbelebung
       des sozialen Wohnungsbaus und eine Wiedereinführung der
       Wohnungsgemeinnützigkeit. Neben einem gesetzlichen Mindestlohn, der
       deutlich über 10 Euro liegen müsste und keine Ausnahmen kennen dürfte,
       gehört eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie
       Grundsicherung, die ohne Pauschalierung der Wohn- und Heizkosten auskommt,
       zu den erforderlichen Gegenmaßnahmen.
       
       Um, etwa nach dem Vorbild der traditionsreichen Gemeindebauten in Wien, für
       mehr bezahlbare Wohnungen sorgen zu können, benötigt der Staat erheblich
       mehr Steuereinnahmen. Sinnvoll wären die progressivere Ausgestaltung der
       Einkommensteuer, die Wiedererhebung der [2][Vermögensteuer] sowie eine
       Anhebung der [3][Erbschaft]- und Schenkungsteuer auf große
       Betriebsvermögen.
       
       Entweder ist der Staat bereit, erheblich mehr Geld auszugeben – was bei
       Verzicht auf Steuererhöhungen ein Ende der „schwarzen Null“ und diverser
       „Schuldenbremsen“ bedeuten würde –, oder die Kluft zwischen Arm und Reich
       wird sich drastisch vertiefen. Betreibt die Bundesregierung jedoch
       weiterhin Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung, könnte die wachsende
       soziale Ungleichheit den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie
       gefährden.
       
       8 Jan 2017
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Christoph Butterwegge
       
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