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       # taz.de -- Debatte Umgang mit Geflüchteten: Cool wie Crottendorf
       
       > Wäre Deutschland wie Crottendorf, wär's ein besseres Land. Im Erzgebirge
       > gelingen Räuchermännchen – und die Integration von Geflüchteten.
       
   IMG Bild: Weihnachtszeit ist Crottendorf-Zeit: Räucherhäuschen haben Hochkonjunktur
       
       Ist das Erzgebirge noch betretbar? Oder doch eher Vorhölle für all jene,
       die ihren Alltag in wuseligen, nervös stimmenden Orten wie Berlin
       verbringen? Voll multikulti – das ist doch so weit hinter Chemnitz ein
       Unding.
       
       Oder?
       
       Alles Lüge?
       
       Stimmt denn, dass es in den deutschen Provinzen garstig und fies gegen
       Fremdes zugeht? Kann man sich trauen, in Dörfer zu reisen? Oder erlebt man
       dort Jagdszenen, als sei’s im Niederbayern, das der Dramatiker Martin Sperr
       beschrieb?
       
       Nix davon. Man fährt in eine Landschaft, so schön wie eine angefrostete
       Toskana, angehügelt, lichterstark schon in der Dämmerung. Es ist still. Die
       Straßen sind leer.
       
       Dann kommt Crottendorf: ein Flecken von knapp 4.000 Menschen, einige von
       ihnen neu und jüngst erst eingewandert. Ob sie sesshaft werden, hängt an
       den Männern und Frauen dieser Gemeinde zuallerletzt.
       
       ## Da sein. Verschwinden
       
       Jedes DDR-Kind kennt Crottendorf, diesen Ort mit Bergbautradition, mit
       Industrieflecken im wirtschaftlichen Umfeld. Vor allem aber, weil dort die
       welttollsten Räuchermännchen hergestellt werden. Inzwischen sogar in
       essbarer Form, modisch als Schokokügelchen. Eine Gemeinde mit Industrie,
       Vollbeschäftigung, einem Skilift und Kleingärten. Eine Schule gibt es und
       einen Hort. Dazu viel Bereitschaft zur Heimwerkerei. Man hält auf
       Tradition, christliche Gemeinden geben den Ton an, auch eine pietistische,
       das Bild der guten Familie ist groß.
       
       Crottendorf ist kein Idyll, war es nie. Einst gab es hier eine Nichtgrenze
       zur Tschechoslowakei, Tschechen und Sudetendeutsche waren Nachbarn, keine
       Bürger*innen aus verschiedenen Staaten. Aber Tschechisch unterrichtet hier
       niemand mehr an der Schule.
       
       Momentan trauert Crottendorf. Und zwar um eine Familie, die neu hinzukam.
       Die aus dem Kosovo stammende Familie Kutllovci wurde jüngst ausgewiesen. Es
       beschäftigt die Leute im Ort. Da sein. Verschwinden. – Als wären sie nie
       hier gewesen. Bürgermeister Sebastian Martin sagt: „Das war alles nach
       Recht und Gesetz.“ Er klingt wie ein heftig Bedauernder, der zwischen den
       Zeilen sagt: Dieses Recht sollte anders sein.
       
       Der Sächsische Flüchtlingsrat hat die Meldung über die Abschiebung in alle
       Welt geschickt, eine dieser Meldungen, von denen es viele gibt. Hier in
       Crottendorf ist die Nachricht eine beklagenswerte Wirklichkeit. Denn die
       Kutllovcis waren, so sagen die Leute, integriert. Sie beteiligten sich am
       Leben der Gemeinde, waren höflich und freundlich; außerdem, nicht zu
       unterschätzen, konnten sie schon ziemlich gut Deutsch.
       
       ## Nicht gut. Nicht schlecht
       
       Der erst vor anderthalb Jahren gewählte Bürgermeister ist ein noch junger
       Mann, Mitte dreißig, Ingenieur, in Kiel hat er studiert, Schanghai und
       andere Fernen der Welt kennen gelernt – und doch zog es ihn nach Hause. Ins
       Überschaubare. Nach Crottendorf. Er sagt: Das Erste, was alle Flüchtlinge
       lernten, die vor einem Jahr kamen oder noch vor kürzerer Zeit: auf der
       Straße zu grüßen. Immer. „Guten Tag.“ „Glück auf.“ Dann gab es noch einige
       Bürgerversammlungen gegen die Angst vor den Fremden sowie die Einrichtung
       einer Kleiderkammer, die allerdings auch für alle offen ist, die es
       deutscherseits knapp auf der Naht haben. So lässt man aus dem Neid die Luft
       raus.
       
       Als das alles geklärt war, als sogar einigen Anwohnern des Flüchtlingsheims
       eine Sichtmauer spendiert wurde, damit diese vom Gefühl befreit waren, beim
       Fensterputzen aus den Fenstern der einstigen Jugendherberge, die nun
       Flüchtlinge beherbergt, eventuell beguckt zu werden. Es soll Frieden sein
       im Land, im Dorf, und niemand soll das Gefühl bekommen, dass die
       Flüchtlinge über Gebühr gut behandelt werden. Jedenfalls nicht besser als
       die Missgünstigen. Aber, und darauf kommt es an, auch nicht schlecht.
       Sondern warm und sicher.
       
       Insofern ist Crottendorf doch ein Stück Deutschland, das, schließlich und
       hoffentlich, gut ist. Hier werden keine großen Erzählungen gepflegt. Nichts
       von Überflutung, Heimsuchung, Angst und Furcht, Pest und Cholera. Wäre es
       überall in Deutschland wie in diesem Flecken im Erzgebirge, hätten die AfD,
       die Nazis, all die Petrys, Gaulands, Höckes und Pretzells vermutlich keine
       Chance. Sebastian Martin, der Bürgermeister, der es gegen alle Honoratioren
       am Ort und auf keiner Parteiliste stehend schaffte, voriges Jahr gewählt zu
       werden, findet, man löse die Probleme, wie sie kommen – und tut das so,
       dass allen Eingewöhnung und Verständnis ermöglicht wird.
       
       ## Ankommen. Dazugehören
       
       Als es aus Dresden, der Landeshauptstadt, hieß, auch Crottendorf bekomme
       Flüchtlinge zugeteilt, wurde nur gesagt: Okay, machen wir, wenn es denn so
       ist, aber schön wäre, wenn es Familien wären, keine alleinstehenden Männer.
       Vielleicht steckte in dem Wunsch nach besonderen Kontigenten auch das
       Wissen, dass junge Männer, unterbeschäftigt und also gelangweilt, eher zur
       Unruhe neigen als Frauen und Männer, die sich um Kinder zu kümmern haben.
       
       In Crottendorf, nebenbei, ist noch niemand überfallen oder mit Sprüchen
       gedisst worden. Vor allem keine Flüchtlinge durch Nazis. Krakeeler, sagt
       man, gibt es überall, aber hier, im Schimmer der Straßenlaternen im
       Frühwinter, seien sie besonders randständig. Nur, dass man die Familie
       Kutllovci vermisst, jetzt. Ist doch so, sagt die Bäckersfrau, die feinen
       Stollen und echtes, nicht heißluftgeföntes Brot verkauft: Erst ist man sich
       fremd, aber dann lernt man sich kennen.
       
       Cool sein in Berlin, der Welthauptstadt in Sachen
       Die-Nerven-behalten-und-das-freie-Leben-weiter-führen, ist nicht immer
       einfach, aber doch eingeübt. Von Crottendorf wird das nicht erwartet. Warum
       eigentlich nicht? „Ja“, sagt Bürgermeister Martin, einige aus seiner
       Gemeinde waren schon in Dresden, bei Pegida, aber die zählen nicht für das
       große Ganze, die würden dieses Sprechen nicht selbst mitmachen.
       
       Andererseits hat man inzwischen einen Döner-Imbiss, der Mann sei in
       Ordnung, auch wenn man, so lässt man durchblicken, es unangemessen findet,
       dass seine Frau nicht so recht das Haus verlassen darf – um etwa im
       Vereinsleben mitzumachen. Man könnte sagen, meint er, es gibt im Dorf
       Wünsche nach den Fremden, aber manchmal geht es eben nicht so einfach.
       
       Im Flüchtlingsheim ist derweil Vorweihnachtsfeier. Mädchen singen Lieder,
       heranwachsende Jungs spielen Billard und tun desinteressiert. In der Tür
       steht ein junger Mann, Heimbetreuerin Gabi Fritzsch sagt, er sei, nach dem
       Verlust der Familie Kutllovic, der neue Sprecher der Flüchtlinge, ein
       schmaler Mann mit modischer Brille aus Marokko. Und weil bald Weihnachten
       ist, beschleicht einen an diesem späten Nachmittag bei den zeitweiligen
       oder vielleicht gar bald sesshaften neuen Bürger*innen von Crottendorf das
       Gefühl, folgender Gedanke könnte eine heilende, weihnachtliche Anmutung
       sein: Hier kamen Menschen, die sich retteten – zu Menschen in einem Dorf,
       die sie nicht bedrohen. Das ist vorbildlich zu nennen, aber der junge
       Bürgermeister will das nicht, denn Crottendorf dürfe doch nichts Besonderes
       sein.
       
       25 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
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