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       # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Im Sumpf der Lobbyisten
       
       > Agrar- und Chemiefirmen geben Millionen aus, um ihre Interessen
       > durchzusetzen. Sie beeinflussen staatliche Behörden und manipulieren
       > Studien.
       
   IMG Bild: Aktivisten protestieren gegen genetisch veränderten Genmais, die Konzerne halten dagegen
       
       Die deutsche Chemieindustrie ist mit über 190 Milliarden Euro Umsatz im
       Jahr 2015 die größte in Europa. BASF und Bayer gehören zu den fünf
       weltgrößten Herstellern von Agrarchemikalien. Die Branche weiß ihre
       Interessen in Brüssel und Berlin zu vertreten. Der „European Chemical
       Industry Council“, ihr europäischer Spitzenverband, gibt mit Abstand das
       meiste Geld für Lobbytätigkeit in Brüssel aus. Im Jahr 2015 waren es 10,2
       Millionen Euro. Die Verbandsfunktionäre und -funktionärinnen hatten 37
       Treffen mit der EU-Kommission und verfügten über 25 Zugangspässe, die einen
       Aufenthalt im Europäischen Parlament ohne Einladung und Voranmeldung
       ermöglichen. Zum Vergleich: Die nach ihnen aktivste Lobbyorganisation, die
       vereinigten Industrie- und Handelskammern, gaben 2015 rund 7,6 Millionen
       Euro aus, trafen sich 33-mal mit hohen Kommissionsbeamten und -beamtinnen
       und kamen auf elf Zugangspässe für das Europäische Parlament.
       
       Bei den Verhandlungen um das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP
       überraschte das Ausmaß der Lobbytätigkeit selbst die Fachleute des
       Corporate Europe Observatory. Die Anti-Lobby-Organisation veröffentlichte
       die genaue Analyse der Kontakte mit der EU-Kommission in den
       TTIP-Vorverhandlungen. Daraus geht hervor, dass die Agrarchemie- und
       Biotechindustrie mehr Kontakte mit der EU-Handelskommission hatte als die
       Lobbyisten und Lobbyistinnen der Pharma- und Autoindustrie und des
       Finanzsektors zusammen.
       
       Auch in Deutschland wirkt der Einfluss der Industrie in die Büros der
       Bundesbehörden. Der Interessenskonflikt scheint hier die Regel. Beim
       Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in Berlin ist ein Expertengremium
       für gentechnisch veränderte Lebens- und Futtermittel angesiedelt. Zehn der
       zunächst vierzehn, nun zwölf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
       arbeiteten auch für die Industrie. Obwohl dieser Missstand seit 2012
       bekannt ist, haben nur vier Expertinnen und Experten das Gremium verlassen.
       Auch die gesetzlich vorgeschriebene Offenlegung ihrer Industrietätigkeit
       war unvollständig, weil die Expertinnen und Experten nicht alle ihre Jobs
       bei biotechnischen Firmen angaben.
       
       Wie wirkt sich dieser Interessenkonflikt auf Entscheidungen aus? Inzwischen
       ist es bereits in die USA vorgedrungen, wie industriefreundlich das
       Expertengremium des BfR entscheidet. So wurde die neue Methode der
       Genschere (CRISPR/Cas9) nicht als Gentechnik klassifiziert. Pflanzen mit
       manipulierten CRISPR/Cas9-Genen können daher einfach zugelassen werden,
       besonders dann, wenn sie auch durch konventionelle Züchtung hätten
       entstehen können. Dabei sind Gefahren und Auswirkungen dieser neuen
       Gentechnikverfahren wegen mangelnder Grundlagenforschung kaum bekannt. Auch
       schneidet die Genschere nicht so genau, wie von der Industrie behauptet
       werde, sagen Kritiker: Die Fehlerquote liege bei 25 Prozent.
       
       ## Dem Wunsch der Industrie entsprechend
       
       Die meisten Rechtsgutachten widersprechen der Einschätzung des BfR, dieses
       „Genome Editing“ sei rechtlich nicht als gentechnisches Verfahren mit
       entsprechenden Nachweis- und Kennzeichnungspflichten zu verstehen.
       Frankreich will das vom Europäischen Gerichtshof klären lassen, während
       Schweden und Argentinien die laxe Haltung der Deutschen übernommen haben;
       das Bundeskabinett folgt der Einschätzung des BfR-Expertengremiums. Eine
       2016 im Bundestag eingebrachte Novelle des Gentechnikgesetzes entspricht
       weitgehend dem Wunsch der Industrie, die neuen Technologien unkompliziert
       zuzulassen.
       
       In letzter Minute wurde eine weitreichende Passage geändert: Nun kann die
       Bundesregierung von Fall zu Fall selbst entscheiden, ob sie solche per
       „Genome Editing“ programmierten CRISPR-Pflanzen entweder nach dem
       „Vorsorgeprinzip“ mit Zulassungsverfahren und Risikobewertung oder nach dem
       „Innovationsprinzip“ ohne viele weitere Formalitäten freigibt. Das
       Innovationsprinzip bewertet die Auswirkungen auf ein gutes Innovationsklima
       in Deutschland, eine Forderung insbesondere des Verbandes der Chemischen
       Industrie (VCI).
       
       Auch bei Zulassungsverfahren für den chemischen Pflanzenschutz gelten die
       deutschen Behörden als industriefreundlich. Die Papiere dazu werden von der
       Pflanzenschutzindustrie selbst in Auftrag gegeben und in der Regel auch
       bezahlt. Die sogenannten „Grauen Studien“ werden nicht veröffentlicht und
       können von unabhängig Forschenden oft nicht überprüft werden. Grund der
       Geheimhaltung: Die Studien enthielten Geschäftsgeheimnisse.
       
       Die Hersteller der Pestizide – also die Antragsteller – dürfen bei der
       Zulassung eines neuen Pestizids selber entscheiden, in welchem EU-Land die
       Prüfung stattfinden soll. Deswegen fiel wohl auch die Entscheidung auf
       Deutschland, als es um die wichtigste EU-Wiederzulassung der letzten Jahre
       ging: die von Glyphosat. Wenn die Industrie ein Zulassungsverfahren für
       Pestizide in der EU startet, bestimmt sie selbst die Vorauswahl der
       wissenschaftlichen Studien dafür. Diese Aufgabe übernahm die „Glyphosate
       Task Force“ (GTF), ein Zusammenschluss der Glyphosathersteller unter der
       Federführung des Saatgutkonzerns Monsanto.
       
       ## Die Studien gehen auseinander
       
       Betreut wird die GTF von der Kommunikationsagentur Genius. Sie wiederum
       arbeitet als Gutachter für Bundeseinrichtungen, etwa für das Büro für
       Technikfolgen-Abschätzung (TAB) beim Bundestag oder für das
       Umweltbundesamt. Aber sie ist auch als PR-Agentur für die Gen- und
       Biotechnologie-Industrie tätig. So leitet ein Seniorberater von Genius eine
       Arbeitsgruppe von BIO Deutschland, dem Lobbyverband der deutschen Gen- und
       Biotechindustrie. Diese Arbeitsgruppe versammelt die mehr als 40
       Pressestellen der beteiligten Unternehmen, um gemeinsam „das Bild der
       Biotechnologie in der Öffentlichkeit zu verbessern“, wie es auf ihrer
       Website heißt.
       
       Bei der Glyphosat-Risikobewertung des BfR wurden alle unabhängigen
       Untersuchungen, die von öffentlichen Institutionen und ohne Industriegelder
       durchgeführt wurden, von der Evaluierung ausgeschlossen; keine einzige
       wurde als Studie betrachtet. Wie sehr wiederum die Bewertungen von Studien
       voneinander abweichen können, wurde deutlich, als die Krebsagentur der
       Weltgesundheitsorganisation (WHO) Glyphosat als „wahrscheinlich
       krebserzeugend für den Menschen“ einstufte. Die Öffentlichkeit und die
       Fachwelt hinterfragten die Einschätzung der Risikobewertung in Deutschland.
       Denn im Gegensatz zum BfR nutzt die WHO öffentlich geförderte Studien, und
       sie besteht auf dem Zugang zu den Rohdaten der Studien, um die Ergebnisse
       zu überprüfen.
       
       Für mehr Transparenz bei der Zulassung von Glyphosat hat der Europäische
       Gerichtshof im November 2016 gesorgt. Er urteilte, gespritzte Agrarchemie
       sei als Emission zu betrachten. Damit unterliege auch deren Zulassung
       strengeren Transparenzvorschriften als zuvor. Der Zugang zu bisher
       verschlossenen „Grauen Studien“ wird nun auch für unabhängige Stellen
       möglich.
       
       Dieser Beitrag steht unter der [1][freien Lizenz CC-BY-SA-4.0] 
       
       Update 27.2.2017: Das Bundesinstitut für Risikobewertung kritisierte obigen
       Beitrag kurz nach Erscheinen in einem offenen Brief ([2][Link, pdf]). In
       einer Antwort nehmen die den Konzernatlas herausgebenden Organisationen
       ausführlich Stellung zu der Kritik ([3][Link, pdf]).
       
       30 Dec 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de
   DIR [2] /static/pdf/OffenerBrief_BfR.pdf
   DIR [3] /static/pdf/20170224_BfR_Konzernatlas.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Kreysler
       
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