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       # taz.de -- Deutschlandexperte über die Eurokrise: „Deutschland ist nur Halb-Hegemon“
       
       > Der britische Deutschlandexperte Hans Kundnani über deutsche Arroganz,
       > die SPD-Europapolitik und die Frage, was 2016 mit 1871 zu tun hat.
       
   IMG Bild: Angela Merkel: Politik nur mit kleinen Kanonenbooten (Archivbild)
       
       taz: Herr Kundnani, Angela Merkel ist wieder Kanzlerkandidatin der Union.
       Erscheint Deutschland als ein Hort der Stabilität, weil die Kanzlerin Chaos
       im Ausland anrichtet, etwa in Griechenland und Italien? 
       
       Hans Kundnani: Da ist etwas dran. Es gibt bezüglich des Euroskeptizimus
       eine Art Nullsummenspiel in Europa. Würde man die Politik ändern, damit der
       Euroskeptizismus in Frankreich und Italien zurückgeht, etwa durch eine
       Vergemeinschaftung der Schulden, würde er in Deutschland wachsen.
       
       Die SPD hat lange debattiert, ob sie EU-Parlamentspräsident Martin Schulz
       als Kanzlerkandidaten nominieren soll. Kaum einer fragt, was es für die
       Europa-Politik bedeutet, wenn Schulz Kanzler werden würde. Dabei wird er
       als der große Europäer verkauft. 
       
       Ich sehe keinen großen Unterschied zwischen ihm und Gabriel, was Europa
       angeht. Und ich sehe auch keinen großen Unterschied zwischen SPD und CDU in
       der Europapolitik. Die SPD-Europa-Politik ist eine der großen
       Enttäuschungen seit Beginn der Euro-Krise. 2010 haben Steinmeier und
       Steinbrück noch öffentlich über eine Vergemeinschaftung der Schulden
       nachgedacht. Aber danach haben sie gemerkt: Die Angst vor einer
       Transfer-Union ist in Deutschland so groß, dass sie die Position
       realpolitisch gar nicht vertreten können.
       
       Schulz plädiert doch für einen „vertieften Bund souveräner Staaten“ – das
       ist eine Umschreibung für „mehr Europa“. 
       
       Eine meiner Frustrationen mit der Debatte über Europa in Deutschland ist
       dieses lineare Denken: Entweder ist man für mehr Europa oder weniger. Ich
       sehe in Deutschland aber vor allem einen „Pro German Europeanism“. Das
       heißt: Man ist proeuropäisch, will aber ein deutsches Europa. Man ist zu
       weiteren Integrationsschritten bereit, aber nur nach deutschem Vorbild.
       Bestes Beispiel ist die Schuldenbremse. Die hat in Deutschland Steinbrück
       2009 eingeführt, also schon vor Anfang der Euro-Krise, und wurde dann den
       anderen europäischen Länder aufoktroyiert.
       
       Die gängige Erzählung im europäischen Süden ist die von der deutschen
       Hegemonie durch die Euro-Krise. Sie sagen, es ist viel problematischer:
       Deutschland sei nur ein Halb-Hegemon – und damit in einer ähnlichen
       Situation wie nach der Reichsgründung 1871. Woran machen Sie das fest? 
       
       Das hat – bei allen Unterschieden zwischen dem Kaiserreich und jetzt –
       zunächst einmal mit der Geographie zu tun. Deutschland liegt mehr oder
       weniger immer noch dort, wo es damals war und hat seit der
       Wiedervereinigung mehr oder weniger die gleiche Größe wie damals.
       Deutschland ist wieder in der Mitte Europas. Im Kalten Krieg war es an der
       Grenze zwischen Ost und West. Und wenn die Geografie noch eine Rolle spielt
       …
       
       Tut sie es denn? Es gibt doch keine deutschen Minderheiten mehr im Ausland,
       die noch irgendwer „Heim ins Reich“ holen will. Und ob Österreich
       eigentlich zu Deutschland gehört, spielt auch keine Rolle. 
       
       Ich glaube nicht, dass die deutsche Frage nur eine Form haben kann. Im
       Kaiserreich war die deutsche Frage eine geopolitische Frage, jetzt ist es
       eine geo-ökonomische. Deutschlands wirtschaftliche Macht schafft auf eine
       ähnliche Weise Instabilität in Europa wie damals seine militärische Macht.
       Und die deutsche Frage und die europäische Frage hängen wieder eng
       zusammen.
       
       Sie sagen, Deutschland sei nicht groß genug, um ökonomisch in Europa
       Frieden zu stiften, also etwa Schulden des Auslands mitzutragen, aber
       andererseits so groß, dass es durch seine ökonomischen Interessen den
       Kontinent dominiert. 
       
       Ja, es ist zu groß für eine Art Gleichgewicht und zu klein für eine
       Hegemonie. Nach 1871 hätte Hegemonie bedeutet, alle anderen Großmächte
       militärisch schlagen zu können. Jetzt würde sie heißen, entweder brutal den
       eigenen Willen in ganz Europa durchzusetzen oder die europäischen Probleme
       zu schultern. Die Eurokrise hat gezeigt, dass Deutschland zu beidem nicht
       in der Lage ist. Deutschland hat seine Interessen gegen Mario Draghi und
       seine Niedrigzins-Politik nicht durchsetzen können. Deutschland kann aber
       auch kein guter Hegemon sein …
       
       … ähnlich wie die USA in Europa nach 1945 … 
       
       … also eine Vergemeinschaftung der Schulden zulassen, eine moderate
       Inflation dulden oder permanente Fiskaltransfers bezahlen – also all die
       Dinge, die die EU zusammenhalten könnten. Für beide Varianten der
       Hegemonie, die brutale wie die sanfte, muss man die Ressourcen besitzen. In
       der klassischen deutschen Frage ging es um militärische Ressourcen, um
       andere Großmächte schlagen zu können.
       
       Der Versuch ist zweimal schief gegangen. 
       
       Kein Wunder. Jetzt hat Deutschland nicht die wirtschaftlichen Ressourcen
       für eine Hegemonialpolitik. Insofern verteidige ich die Deutschen gegen die
       angelsächsische Kritik etwa von Paul Krugman, die lautet: Die Deutschen
       haben keine Ahnung von Wirtschaft.
       
       Steht Ihre These von der deutschen Halb-Hegemonie nach Flüchtingskrise und
       Brexit nicht vor dem Aus? Spätestens wenn Marine Le Pen französische
       Präsidentin werden sollte, ist Deutschland isoliert statt halb-hegemonial. 
       
       Das eine schließt das andere nicht aus. Es wäre geradezu typisch für die
       deutsche Geschichte: Die halbhegemoniale Stellung führt früher oder später
       zur Isolation und dann zur Einkreisung. Nur ein Vollhegemon kann nicht
       isoliert werden.
       
       Wenn die deutsche Europolitik rational begründet ist, kommen wir aus der
       gegenwärtigen Krise kaum heraus. Sie verbreiten Fatalismus. 
       
       Ich sehe die Krise in Europa und die deutsche Rolle darin als etwas sehr
       Tragisches. Es gibt keine einfache Lösung – und deswegen bin ich auch
       ziemlich pessimistisch, was die Zukunft Europas angeht. Es gibt aber neben
       der objektiven Lage aber auch eine zweite Parallele mit der deutschen
       Geschichte: der Stimmung nach der deutschen Einheit 1871.
       
       Sie meinen die deutsche Überheblichkeit. 
       
       Ja, Triumphalismus – und Sendungsbewusstsein: Deutschland habe eine Mission
       in Europa, die anderen auf den richtigen Pfad zu führen.
       
       War die deutsche Politik in der Flüchtlingskrise auch triumphalisisch? 
       
       Nein, es gab schließlich keinen Anlass zum Triumph: Deutschland konnte
       seinen Willen nicht durchsetzen. Aber das missionarische finden wir darin
       schon. Was beide Krisen verbindet, ist die deutsche Tendenz, zu denken, wir
       wissen, wie man richtig handelt – und ihr anderen in Europa versteht das
       einfach nicht.
       
       Die deutsche Elite ist heute so international wie nie zuvor. Trotzdem denkt
       sie deutsch. Warum berücksichtigt sie die Sichtweisen der anderen nicht? 
       
       Es gibt eine seltsame Mischung aus Internationalismus und Provinzialismus
       in der deutschen Debatte. Deutschland ist vor allem seit der Euro-Krise
       immer entspannter geworden ist, was Kritik aus dem Ausland angeht. Früher
       war Deutschland überempfindlich. Vor allem, wenn Kritik aus Großbritannien,
       den USA und Frankreich kam. Die Deutschen wollten bestätigt werden …
       
       … nach 1945 alles richtig gemacht zu haben? 
       
       Das habe ich als Brite so empfunden. Damals wünschte man sich, dass die
       Deutschen ein bisschen selbstbewusster werden und nicht so sehr darauf
       achten, was andere über sie denken. Jetzt ist es umgekehrt. Vielleicht hat
       das mit dem Irak-Krieg angefangen, nach dem die Deutschen gedacht haben:
       Wir wissen es besser.
       
       Die deutsch-französische Achse ist doch auch gebrochen, obwohl beide Länder
       im Irak-Krieg einer Meinung waren. 
       
       Ja. Es erschreckt mich, wie in Berlin seit Beginn der Euro-Krise über
       Frankreich gesprochen wird.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Ich möchte hier kein wörtliches Zitat wiedergeben, aber manche hochrangigen
       deutschen Beamten oder Think-Tank-Mitarbeiter reden geradezu mit Verachtung
       über die Franzosen: Sie finden sie lächerlich oder einfach dumm. Die
       Franzosen hätten keine Ahnung und müssten diszipliniert werden.
       
       Weil Deutschland bis 1914 nur Halb-Hegemon gewesen sei, hätten sich
       Allianzen anderer Staaten gegen das Kaiserreich gebildet, schreiben Sie.
       Heute hätten sich Italien und Frankreich von ihren Interessen her sich doch
       längst gegen Deutschland verbünden müssen. 
       
       Die Lehre aus der Geschichte ist zweideutig. Heißt sie: Man muss solche
       Koalitionen bilden – oder dass solche Koalitionen zu Krieg führen? Wenn man
       die klassische deutsche Frage nimmt …
       
       … hat Deutschland durch anti-deutsche Koalitionen die Kriege verloren. 
       
       Insofern sind wir alle bezüglich der Koalitionsfrage gespalten. Auch
       Franzosen und Italiener und Spanier. Sie haben Angst davor. Ich auch. Ich
       fürchte, dass anti-deutsche Koalitionen Europa zerstören. Ich sehe aber den
       strukturellen Druck zur Koalitionsbildung – und dann hätte ich lieber
       gesehen, dass Renzi und Hollande eine antideutsche Koalition bilden als die
       Fünf-Sterne-Bewegung und Le Pen.
       
       Was ändert die Wahl von Donald Trump? 
       
       Es ist erstaunlich, wie nach der US-Wahl von Merkel als Leader of the free
       world gesprochen wird. Die Vorstellung, Deutschland könne nur halbwegs die
       Vereinigten Staaten ersetzen, ist lächerlich. Erstens sind die USA eine
       globale Macht, Deutschland ist eine Regionalmacht. Zweitens hat die
       Bezeichnung Leader of the free world im Kalten Krieg nur Sinn ergeben, weil
       die USA bereit waren, militärische Macht einzusetzen, um Demokratien zu
       verteidigen. Deutschland hat aber wenig militärische Macht.
       
       Meist war eher eine moralische Führung Deutschlands gemeint. 
       
       Ich bezweifle auch, ob Merkel diese Rolle erfüllen kann. Gerade weil
       Deutschland in der Eurozone in den letzten sechs Jahren eine brutale
       Politik verfolgt hat. Ganz gleich, ob sie richtig war oder nicht, wird die
       deutsche Führung innerhalb von Europa nicht anerkannt. Aber Trump wirft
       eine neue Frage bezüglich der halbhegemonialen Stellung Deutschlands auf.
       Es ist zweifelhaft, ob die amerikanische Sicherheitsgarantie für
       Deutschland unverändert gilt. Das ist vielleicht ein game changer.
       Deutschland sieht schwächer aus als zuvor, auch, weil es keine nukleare
       Macht ist. Und Frankreich sieht stärker aus.
       
       Der US-Ökonom Joseph Stiglitz schreibt in seinem neuen Buch, die größte
       Gefahr für Europa sei das „muddling through“, also sich einfach so weiter
       durchzuwursteln statt sich entweder für mehr oder weniger Europa zu
       entscheiden.
       
       Das sehe ich auch so. Stellen Sie sich vor, der Front National kommt in
       Frankreich wirklich an die Macht. Um das definitiv zu verhindern, bräuchten
       wir eine radikal andere Politik in Europa für mehr Wachstum und Jobs. Aber
       die Deutschen können und werden keine andere europäische Wirtschaftspolitik
       einleiten.
       
       3 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Reeh
       
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