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       # taz.de -- Sicherheitsmaßnahmen im Faktencheck: Völlig losgelöst?
       
       > Von Abschiebehaft bis Fußfesseln: Seit dem Anschlag in Berlin fordern
       > Innenpolitiker viele Maßnahmen. Nicht alle sind hilfreich.
       
   IMG Bild: Polizisten einer Maschinenpistole vor Weihnachtsmärkte zu stellen, verhindert im Zweifel überhaupt nichts
       
       ## Härtere Maßnahmen gegen Herkunftsländer
       
       Bundesinnenminister Thomas de Maiziére und Justizminister Heiko Maas haben
       sich darauf verständigt, den Druck auf die Staaten zu erhöhen, die ihre
       abzuschiebenden Bürger nicht zurücknehmen. Dabei sollen alle Politikfelder
       eingesetzt werden – auch die Entwicklungshilfe.
       
       Tatsächlich gab es in diesem Punkt bei Anis Amri Hindernisse. Am 11. Juni
       2016 lehnt das Bundesamt für Migration den Asylantrag des Tunesiers ab –
       Amri hat sich als Ägypter ausgegeben. Zur Abschiebung aber kommt es nicht.
       Amri hat keinen Pass. Tunesien behauptet anfangs, Amri sei kein
       Staatsbürger. Ersatzpapiere übersendet das Land nicht.
       
       Tunesien gilt der Bundesregierung schon länger als Problemfall. Erst im
       September unterzeichnete der Bundesinnenminister mit seinem tunesischen
       Amtskollegen ein Sicherheitsabkommen zur „Beschleunigung der Rückkehr der
       illegal in Deutschland aufhältigen tunesischen Staatsangehörigen“.
       
       Die Zahlen indes sind überschaubar: 111 von 1.495 ausreisepflichtigen
       Tunesiern wurden 2016 bis Ende November abgeschoben. Im Vorjahr waren es
       17. Auch die Ersatzpapiere für Amri liefert Tunesien erst am 21. Dezember –
       zwei Tage nach dem Berlin-Anschlag.
       
       Vor einer Kürzung der Entwicklungshilfe aber warnt das
       Entwicklungshilfeministerium. Ziel müsse es sein, die Maghreb-Region zu
       stabilisieren. Es sei in deutschem Interesse, dass nicht noch mehr Menschen
       ihre Heimat verlassen. Das Ministerium verweist eher auf Programme, die die
       Rücknahmebereitschaft der Staaten belohnen. Auch Bundeskanzlerin Angela
       Merkel appelliert, „im Respekt“ mit den Ländern zu verhandeln. Im Fall
       Tunesien setzte Deutschland deshalb zuletzt auf Kooperation. Ein
       Pilotprojekt für „beschleunigte Abschiebungen“ wurde gestartet, tunesische
       Beamte sollen künftig in deutschen Erstaufnahmeeinrichtungen die
       Identitäten ihre Landsleute klären. Auch soll ein Rücknahmeabkommen
       verhandelt werden.
       
       Fazit: Handlungsbedarf ist da. Was aber genau tun? Unklar. (ko)
       
       + + + + +
       
       ## Zentralisierung der Sicherheitsbehörden
       
       Bundesinnenminister Thomas de Maizière setzt auf Zentralisierung: Er will
       die Landesämter für Verfassungsschutz abschaffen und die Aufgaben beim
       Bundesamt konzentrieren. Auch will er die Befugnisse des Bundeskriminalamts
       ausbauen. Ob mächtige Bundesbehörden im Fall Anis Amri hätten helfen
       können, den Anschlag mit zwölf Toten zu verhindern, ist schwer zu sagen:
       Denn viele Details über das Agieren der Sicherheitsbehörden sind bislang
       unbekannt.
       
       Die wichtigste Fragen: Warum hatten die Behörden, die so viel über Amri
       wussten, ihn am Ende nicht mehr im Blick? Und wie konnte es zu der
       verhängnisvollen Fehleinschätzung kommen, von Amri gehe keine akute
       Terrorgefahr aus?
       
       Amri war seit Mitte Februar lückenlos als Gefährder eingestuft, mal in NRW,
       mal in Berlin. Die beiden Landeskriminalämter haben sich regelmäßig
       ausgetauscht, zwischen Februar und November, insgesamt sieben Mal, war Amri
       Thema im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin, wo die
       Sicherheitsbehörden aus Bund und Ländern zum Austausch von Informationen
       und Einschätzungen zusammenkommen. Doch wer die beiden SPD-geführten
       Innenbehörden in Berlin und Nordrhein-Westfalen derzeit beobachtet, stellt
       fest: Sie schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu.
       
       Berlin betont, die Federführung habe bei NRW gelegen, da Amri dort gemeldet
       gewesen sei. NRW verkündet, Amri habe sich seit August nicht mehr im
       Bundesland aufgehalten, sein Handy sei Ende Oktober im Bereich
       Berlin/Brandenburg geortet worden. Und hatte nicht die Berliner Polizei im
       September die Überwachung Amris beendet, nachdem sie in einem
       Ermittlungsverfahren nur Hinweise für Kleinkriminalität und nicht für
       Terror bei Amri fanden? Das klingt nach Zuständigkeitsgerangel. Aber liegt
       hier wirklich der Kern des Problems?
       
       Noch ist auch unklar, warum nicht der Verfassungsschutz Amri im Blick
       behielt, nachdem die polizeilichen Mittel ausgeschöpft waren, obwohl es im
       September und Oktober Hinweise der tunesischen und marokkanischen
       Sicherheitsdienste gab, Amri sei IS-Anhänger und wolle in Deutschland „ein
       Projekt ausführen“. Auch wie es den Behörden entgehen konnte, dass Amri
       sich – womöglich bei Reisen in die Schweiz – eine Waffe besorgte, ist
       ungeklärt. War vielleicht der Ansatz, der anscheinend verfolgt wurde, Amri
       in Sicherheit zu wiegen und auf offene Maßnahmen zu verzichten, falsch?
       
       In der GTAZ-Sitzung am 2. November, der letzten zum Fall Amri, sei man
       einvernehmlich davon ausgegangen, dass von dem Tunesier keine akute
       Terrorgefahr ausgehe, heißt es aus NRW. Die Einschätzung war offensichtlich
       falsch. Beteiligt waren nicht nur der Verfassungsschutz und die
       Landeskriminalämter der beiden Länder, sondern auch die Bundesbehörden:
       BKA, Bundesamt für Verfassungsschutz, Bundespolizei und der
       Bundesnachrichtendienst.
       
       Fazit: Noch ist unklar, ob es Fehler in der Zusammenarbeit der zuständigen
       Länderbehörden gab. Aber die Länder werden die Abwicklung der
       Landesbehörden ohnehin verhindern. (sam)
       
       + + + + +
       
       ## Fußfessel für „Gefährder“
       
       Auch mit einem GPS-Sender am Fuß hätte Anis Amri einen Anschlag begehen
       können. Dennoch wollen Innenminister Thomas de Maizière und Justizminister
       Heiko Maas die Möglichkeit ausweiten, das Tragen einer elektronischen
       Fußfessel anzuordnen – auch bei Personen, die noch nicht verurteilt wurden.
       Sie regten auch die in den meisten Fällen zuständigen Bundesländer an, die
       Rechtslage dementsprechend anzupassen.
       
       Attraktiv an der Fußfessel ist, dass sie genaue Bewegungsbilder produziert.
       Sie dient eher der Überwachung („Wer hat sich wann getroffen?“), als dass
       sie Anschläge verhindern könnte. Unattraktiv ist dagegen, dass die Fessel
       dem Überwachten zeigt, für wie gefährlich der Staat ihn hält. Und genau das
       wollten die Behörden im Fall Amri die ganze Zeit vermeiden. „Offene
       behördliche Maßnahmen“, heißt es aus NRW, hätten dessen „konspiratives
       Handeln noch mal verstärkt“.
       
       Fazit: Hätte wohl nichts verhindert – es sei denn, man hätte schon durch
       bloße Überwachungsmaßnahmen die Anschlagsplanung frühzeitig erkannt. (chr)
       
       + + + + +
       
       ## „Null Toleranz“ für Hassprediger
       
       Radikalislamistische Moscheen müssten geschlossen werden, für dortige
       „Hassprediger“ müsse „null Toleranz“ gelten, fordert SPD-Chef Sigmar
       Gabriel.
       
       Die Frage, ob sich Anis Amri erst in Deutschland radikalisierte oder nicht
       schon in Italien oder Tunesien, ist ungeklärt. Die Ermittler beobachteten
       aber, dass Amri hierzulande Kontakte zu Salafisten suchte. In
       Nordrhein-Westfalen soll er als „Nachrichtenmittler“ für den Islamisten
       Ahmad Abdulaziz Abdullah A. alias „Abu Walaa“ tätig gewesen sein. Schon von
       Dezember 2015 bis Mai 2016 wird deshalb Amris Handy überwacht. Abu Walaa
       wird im November 2016 mit vier Gefolgsleuten unter dem Vorwurf der
       IS-Unterstützung festgenommen. Schon das war nicht einfach: Erst nach
       langwierigen Ermittlungen war es gelungen, Beweise zusammenzutragen. Amri
       indes blieb von den Razzien unberührt.
       
       In Berlin verkehrte der Tunesier im einschlägigen Moscheeverein „Fussilet“.
       Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) gab am Mittwoch bekannt, dass
       Amri Anfang Oktober dort observiert wurde. Noch am Tattag soll der Tunesier
       in der Moschee gewesen sein. Laut Verfassungsschutz wurden bei „Fussilet“
       Muslime mittels Islamunterricht „für den Dschihad in Syrien radikalisiert“.
       Ein Verbot – möglich noch dem Vereinsgesetz, etwa nach Gewaltaufrufen –
       scheiterte bisher, weil vorerst Prozesse gegen dortige Funktionäre
       abgewartet wurden. Die Sache ist auch wegen des Grundrechts auf
       Religionsfreiheit kompliziert. Geisel lässt nun prüfen, „ob man hier jetzt
       kurzfristig auch tätig werden kann“.
       
       Fazit: Leichter gesagt als getan. (ko)
       
       + + + + +
       
       ## Abschiebehaft für „Gefährder“
       
       Natürlich hätte Anis Amri am 19. Dezember keinen Anschlag begehen können,
       wenn er an diesem Tag im Gefängnis gewesen wäre. Deshalb werden derzeit
       zwei Vorschläge diskutiert, die an diesem Punkt ansetzen.
       
       Justizminister Heiko Maas unterstützt nun einen Gesetzentwurf, den
       Innenminister Thomas de Maizière bereits im Oktober (also vor dem Anschlag)
       vorgelegt hat. Dabei soll eine spezielle Abschiebehaft für Gefährder
       eingeführt werden, so dass bei ausreisepflichtigen Gefährdern nicht mehr
       geprüft werden müsste, ob sie sich einer Abschiebung entziehen wollen. Sie
       könnten einfach so in Abschiebehaft genommen werden.
       
       Bei Amri war aber aus einem anderen Grund auf Abschiebehaft verzichtet
       worden. Die NRW-Behörden nahmen an, dass die Beschaffung von Ersatzpapieren
       bei den tunesischen Behörden länger als drei Monate dauern würde und eine
       Abschiebehaft deshalb unzulässig sei. Vermutlich haben die Behörden dabei
       die Rechtsprechung des BGH falsch ausgelegt.
       
       Maas und de Maizière ließen offen, ob in NRW etwas schieflief, sie wollen
       jedenfalls, dass Abschiebehaft auch dann verhängt werden kann, wenn die
       Herkunftsstaaten bei der Abschiebung nicht kooperieren. Da Amri als
       abgelehnter Asylbewerber ausreisepflichtig war, hätte eine Verschärfung der
       Abschiebehaft-Regeln unter Umständen den Anschlag verhindert.
       
       Viele andere Gefährder haben aber die deutsche Staatsbürgerschaft oder
       können aus anderen Gründen nicht abgeschoben werden. Hier kommt
       Abschiebehaft nicht in Frage. Möglich wäre dann aber Untersuchungshaft nach
       Straftaten (wenn Fluchtgefahr besteht). Vorgeschlagen wurde auch, strenge
       Meldeauflagen zu erlassen, deren Missachtung dann bestraft werden könnte.
       
       Fazit: Inhaftierung ist ein wirkungsvolles Mittel. Es hätte im Falle Amri
       ohne Gesetzesverschärfung angewandt werden können. Im Sommer und Herbst
       hielt man Amri aber nicht für so gefährlich, dass man darüber intensiv
       nachgedacht hätte. (chr)
       
       10 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine am Orde
   DIR Christian Rath
   DIR Konrad Litschko
       
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