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       # taz.de -- Kältewelle in Südosteuropa: Nicht vor und nicht zurück
       
       > Mitten in Belgrad leben über 1.500 Flüchtlinge in einem illegalen Lager.
       > Sie frieren, hungern. Von den Behörden werden sie hilflos geduldet statt
       > betreut.
       
   IMG Bild: Belgrad, 11. Januar 2017 in den ehemaligen Lagerhallen hinter dem Hauptbahnhof
       
       Belgrad taz | Es ist ein grauer eiskalter Wintermorgen in der serbischen
       Hauptstadt. In den Nächten zuvor ist die Temperatur auf minus zehn Grad
       gefallen. Das Gelände hinter dem Hauptbahnhof ist von Unrat bedeckt. Die
       einzige Mülltonne quillt seit Monaten über. Aus den leer stehenden
       Lagerhallen und Baracken, in denen früher der Zoll untergebracht war,
       kommen allmählich in graue Decken gehüllte Gestalten hervor.
       
       Einige machen Feuer oder waschen sich an dem einzigen Wasserhahn, andere
       vertreten sich die Füße oder hocken einfach da und schauen auf den ersten
       Schnee des Jahres. Über 1.500 Flüchtlinge leben in dem illegalen Lager im
       Zentrum Belgrads, keine zehn Minuten Fußweg von der Haupteinkaufsstraße
       entfernt. Keine Heizung, kein Strom, keine Toiletten.
       
       Drinnen schlafen die Flüchtlinge auf Decken, die direkt auf dem Betonboden
       liegen. Mit ein paar Fundstücken haben sie provisorische Schlafkammern
       abgeteilt, in denen sie zu mehreren dicht aneinandergepresst schlafen.
       Manche stehen den ganzen Tag nicht auf, schlummern vor sich hin – hungrig,
       erschöpft, resigniert.
       
       Auch in den Hallen brennen mehrere Feuer, der Rauch sticht und beißt,
       sodass man kaum sehen und atmen kann. Die hier Kampierenden verfeuern
       alles, was sie in die Hände bekommen: Autoreifen, Bahnschwellen, gefärbtes
       oder lackiertes Holz von ehemaligen Büromöbeln. Husten ist zu hören. Hier
       und da sieht man Kinder, Jungen, die nicht älter als zehn oder elf Jahre
       alt sein können. Viele haben Läuse, sind krank oder haben Frostbeulen, eine
       ärztliche Betreuung gibt es nicht.
       
       ## Stecken geblieben
       
       Es ist eine reine Männerwelt hier gleich hinter dem Bahnhof. Und das
       zurzeit größte illegale Flüchtlingslager in Europa. Über neunzig Prozent
       der Anwesenden sind Afghanen, die anderen Pakistaner. Sie haben keine
       Chance, legal in die Europäische Union zu kommen. Erstens gelten
       Afghanistan und Pakistan als „sichere Herkunftsländer“, weshalb es keine
       Hoffnung auf Asyl gibt; zweitens lassen ungarische Grenzpolizisten nur zehn
       Bürgerkriegsflüchtlinge pro Tag ins Land, ausschließlich Familien mit
       Kindern, und auch das nur werktags. Am Wochenende ist Ungarn für
       Flüchtlinge geschlossen.
       
       Die Geschichte des 20-jährigen Afghanen Ahmet ist typisch. Er sei vor den
       Taliban, vor dem Krieg geflüchtet, erzählt er. Die Familie habe Geld
       gesammelt, und er habe sich mit Schleppern auf den Weg gemacht. Über
       Pakistan, den Iran, durch die Türkei und Bulgarien sei er vor vier Monaten
       nach Serbien gelangt. Die Reise habe ihn bisher 12.000 Euro gekostet. In
       dem illegalen Lager haust Ahmet nun seit zwei Monaten. Zweimal hat er
       vergebens versucht, sich nach Ungarn einschleusen zu lassen. Nun wartet er,
       wie die meisten hier, auf die nächste Gelegenheit.
       
       Über Handys stellen die Flüchtlinge Kontakt mit Schleppern her, die ihre
       Familien dann bezahlen. Niemand will in ein legales Flüchtlingslager gehen:
       Es hat sich herumgesprochen, dass Flüchtlinge aus Serbien heimlich
       abgeschoben werden. Das bestätigt auch der UNHCR aufgrund von Interviews
       mit Flüchtlingen. Die Bewohner des Flüchtlingslagers in Preševo an der
       Grenze zu Mazedonien dürfen sich außerdem nicht frei bewegen, sie sind
       quasi eingesperrt. Das Weiterkommen der Flüchtlinge wird damit fast
       unmöglich gemacht.
       
       Seit November ist es Hilfsorganisationen auch verboten, in dem illegalen
       Lager am Bahnhof Essen und Kleidung zu verteilen. Nur die britische
       Organisation Hot Food Idomenia wird von den Behörden geduldet und darf eine
       warme Mahlzeit am Tag verteilen. „Damit wir nicht ganz krepieren“, sagt
       einer der Flüchtlinge sarkastisch.
       
       Obwohl Serbien bisher wegen seines vergleichsweise menschlichen Umgangs mit
       den Flüchtlingen von diesen wie auch von Hilfsorganisationen gelobt worden
       ist, scheinen nun auch die serbischen Behörden ihre Flüchtlingspolitik dem
       ungarischen Modell angleichen zu wollen: Sie setzen auf möglichst viel
       Abschreckung und die entsprechende Mundpropaganda.
       
       ## Die Selbstorganisation läuft
       
       Derzeit sind in Serbien offiziell mehr als 7.000 Flüchtlinge registriert,
       Hilfsorganisationen schätzen ihre Zahl jedoch auf über 10.000. Die Lager
       und Aufnahmezentren sind voll. Obwohl die Balkanroute als geschlossen gilt,
       gelangen derzeit immer noch rund 3.000 Flüchtlinge monatlich nach Serbien,
       die meisten über Bulgarien.
       
       Gordan Paunovic von der Hilfsorganisation Info Park spricht von einem
       „organisierten Abschreckungssystem“. Bis Ende Oktober gab Info Park 2.400
       Mahlzeiten täglich aus, das ist nun untersagt. Das illegale
       Flüchtlingslager würde aber mittlerweile weitgehend selbstständig oder
       „selbsterhaltend“ funktionieren, sagt Paunovic, unabhängig von serbischen
       Institutionen oder Hilfsorganisationen. Allerdings erschwert die Kältewelle
       den Flüchtlingen das prekäre Leben enorm. Die meisten Bewohner besitzen
       keine gültigen Papiere, sie haben in der Regel auch die Chance verpasst,
       einen Asylantrag in Serbien zu stellen. Da niemand weiß, was mit ihnen
       geschehen soll, meint Paunovic, würden sie einfach geduldet.
       
       Auch allein reisende Flüchtlingskinder und -jugendliche sind sich selbst
       überlassen; ihre Anzahl in dem illegalen Lager wird auf über 200 geschätzt.
       „In Serbien treffen täglich etwa 100 Flüchtlinge ein, sagt Tatjana Ristić
       von Save the Children, „davon sind vierzig Prozent Kinder, und davon
       wiederum zehn Prozent unbegleitete Minderjährige.“ Ihr physischer und
       psychischer Zustand sei „besorgniserregend“.
       
       Insgesamt sollen sich 700 unbegleitete Minderjährige in Serbien aufhalten;
       allein in den vergangenen zehn Tagen hat Save the Children jedoch fast
       fünfzig neue Fälle registriert. Die Dezemberstatistik belegt, dass mehr als
       75 Prozent der Jugendlichen aus Afghanistan stammen, in fast allen Fällen
       handelt es um Jungen, meist zwischen 15 und 17 Jahre alt.
       
       ## Anlaufstelle für Jugendliche
       
       Save the Cildren betreibt in Bahnhofsnähe das Aufnahmezentrum „Miksalište“,
       ein child friendly space. Dort werden Flüchtlingskinder von ausgebildeten
       Mediatoren betreut. Außerdem können sich Flüchtlinge hier über das
       Asylrecht informieren, sich aufwärmen, ihre Handys aufladen. Betten gibt es
       keine, Unterkunft ist hier nicht vorgesehen.
       
       Trotzdem haben die Leute von Miksalište in den eisigen Nächten zuvor einige
       Flüchtlinge, vor allem Kinder, auf dem Boden übernachten lassen. Auch den
       neunjährigen Irfan* mit seinen zwei Freunden, zehn und elf Jahre alt, alle
       drei aus Afghanistan, alle drei allein unterwegs. Kennengelernt haben sie
       sich in Belgrad, seitdem halten sie zusammen.
       
       Irfan sagt, er sei mit seinem sechzehnjährigen Onkel unterwegs. Der
       Dolmetscher von Save the Children übersetzt seine Geschichte: Die Taliban
       hätten seinem Vater gedroht, ihn und seinen Sohn umzubringen, deswegen habe
       ihn die Familie mit Schleppern nach Europa geschickt. In Serbien befindet
       er sich jetzt schon seit fünf Monaten, davon zweieinhalb Monate in dem
       illegalen Lager in Belgrad. Trotz der sehr schlechten Bedingungen habe ihm
       sein Vater empfohlen, offizielle Flüchtlingslager zu meiden, damit er nicht
       abgeschoben oder festgehalten werden kann.
       
       ## Die Heime sind voll
       
       Immer wieder telefoniert Irfan. „Mit Schleppern“, sagt er, als ob das ganz
       selbstverständlich sei. Ja, er sei sich des Risikos bewusst, illegal nach
       Ungarn zu gehen. Irfan hat schon von Fällen gehört, dass Grenzhunde auch
       Kinder angegriffen hätten, die mit lebensgefährlichen Bisswunden ins
       Krankenhaus kamen. Aber er will es dennoch versuchen, was bleibe ihm
       anderes übrig? Wenn es wieder etwas wärmer wird, will Irfan mit seinen
       Freunden ins illegale Lager am Bahnhof zurückgehen, dort hätten sie ein
       kleines Zelt, das sie vor Rauch und Kälte schütze.
       
       Eigentlich müssen nach serbischem Gesetz alle Minderjährigen ohne Betreuung
       oder Begleitung, auch Flüchtlinge, in reguläre Einrichtungen. Doch auch
       hier sind die Behörden ebenso macht- wie ratlos: Die Kinderheime sind voll,
       und außerdem sind es keine Gefängnisse, Flüchtlingskinder rennen davon.
       Also überlässt man sie ihrem Schicksal.
       
       In den letzten Wochen haben internationale Medien auf die Zustände in dem
       illegalen Lager in Belgrad aufmerksam gemacht. Nichts geschah. Kein Land,
       schon gar nicht Ungarn will die Geflüchteten aufnehmen; ihr Status in
       Serbien kann oder soll nicht legalisiert werden, andererseits wagt niemand
       eine Massenabschiebung. Wie und wohin auch?
       
       Seit Sonntag verteilt nun das serbische Flüchtlingskommissariat
       Flugblätter, in denen den Flüchtlingen in dem Belgrader Vorort Obrenovac
       Unterkunft mit Essen, Heizung, Duschen, frischer Kleidung und medizinischer
       Betreuung in einer ehemaligen Kaserne angeboten wird. Alles ist besser als
       das Lager hinter dem Bahnhof, doch befinden sich auch diese Gebäude in
       einem sehr schlechten Zustand. Unklar ist auch, ab wann und wie viele
       Menschen dort untergebracht werden können und wer sie versorgen soll.
       
       Für die Flüchtlinge ist das zweitrangig. Für sie zählt, dass das neue Lager
       nicht weit vom Stadtzentrum entfernt liegt und dass es offen ist.
       
       *Name geändert
       
       17 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andrej Ivanji
       
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