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       # taz.de -- Gülen-Bewegung in Deutschland: Die stigmatisierte Schule
       
       > In der Türkei werden die Anhänger der Gülen-Bewegung verfolgt. Das
       > bekommt auch eine Schule in Bayern zu spüren.
       
   IMG Bild: „Wir haben mit diesem Gülen nichts zu tun“, sagt Schulleiterin Monika Weltz
       
       Jettingen-Scheppach/Berlin taz | Die sieben Atlanten, die Nico Wenger im
       Lehrerzimmer aus seinem Fach nimmt, unter den Arm klemmt und ein Stockwerk
       höher im Raum N111 auf das Pult legt, reichen für die ganze Klasse. Sieben
       Einzeltische stehen in einem Halbmond vor Wenger. Dahinter sitzen die
       Achtklässlerinnen, drei tragen Kopftuch, alle Markenschuhe. Mit einem Blick
       erfasst Wenger durch seine Brille die komplette Erdkundeklasse. In den
       kommenden 45 Minuten wird er jede Schülerin mehrfach aufrufen können, so
       wenige sind sie in der 8g. „Esmanur, woher kommt das Wasser in der
       Sahara?“, „Guck doch in den Atlas, Aysegül!“, „Was also könnte eine
       Flussoase sein, Beyza?“
       
       Die tollen Unterrichtsbedingungen haben für den 33-jährigen Lehrer dennoch
       einen Beigeschmack. Seine engagierteste Schülerin, wie Wenger es nach der
       Stunde formuliert, hat im vergangenen Sommer die Klasse verlassen. Die
       Pause verbringt er im Lehrerzimmer. An diesem Wintermorgen ist der Raum
       sonnendurchflutet. Vom Pausenhof dringen die hellen Stimmen der Mädchen
       hinein, die sich in die Kälte gewagt haben.
       
       „Ich habe natürlich geahnt, warum die Eltern das Mädchen von der Schule
       genommen haben“, sagt Wenger ernst. „Als ich sie danach fragte, hat sie
       rumgedruckst.“ Dann verrät er, dass seine zweite Erdkundeklasse über die
       großen Ferien sogar um 14 Schülerinnen geschrumpft ist.
       
       ## Anfangs die „Türkenschule“
       
       Mehr als 40 Mädchen hat Wengers Schule im vergangenen Sommer verloren, fast
       ein Viertel der gesamten Schülerschaft. Deshalb soll auch ihr Name geändert
       werden, der nach wie vor über dem Eingang prangt. An ihm haftet das Stigma
       der Verwundbarkeit.
       
       Noch heißt sie „Vision Privatschule“ und liegt am Ortseingang von
       Jettingen-Scheppach, einem 7.000-Seelen-Ort im schwäbischen Landkreis
       Günzburg, an der Grenze zu Baden-Württemberg. Im Ort wurde das
       Mädcheninternat anfangs nur „Türkenschule“ genannt, wegen der vielen
       Schülerinnen mit Kopftuch, die immer über die Straße zur Araltankstelle
       huschen oder in den nahen Outletstores gesichtet werden. Doch seitdem über
       Nacht ein Totenkopf auf der Schulgarage auftauchte, ist der anfänglichen
       Skepsis im Ort Solidarität gewichen.
       
       Monika Weltz weiß noch genau, wann sie die Schmiererei entdeckte. Es war am
       Montag nach dem Putschversuch in der Türkei. In den Wochen darauf gingen
       bei der Rektorin täglich Abmeldungen ein. Manche Eltern riefen an und
       entschuldigten sich für ihre Entscheidung. Andere nicht. Der Kontakt mit
       den Eltern ist wegen der örtlichen Distanz oft lose. Die Familien, die ihre
       Kinder bei Weltz auf das Gymnasium oder die Realschule schicken, wohnen in
       München, Stuttgart oder Basel.
       
       Doch auch bei den kommentarlosen Abmeldungen vermutet die Schulleiterin
       einen Zusammenhang mit den Geschehnissen in der Istanbuler Putschnacht vom
       15. Juli 2016: „Die Türken in Deutschland haben Angst, mit einer
       Gülenschule in Verbindung gebracht zu werden.“
       
       ## Weisungen aus der Türkei
       
       Die Türkei macht den islamischen Prediger Fethullah Gülen für den
       Umsturzversuch verantwortlich. Deren Anhänger gelten dort als mutmaßliche
       Terroristen. Tausende verloren ihren Job oder wurden verhaftet. Auch in
       Deutschland hat sich der Graben zwischen den Fans des türkischen
       Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und den Gülenisten vertieft. Per SMS
       erhielt die türkische Community Weisungen aus der Türkei, Gülen-Anhänger zu
       denunzieren. Auf Facebook und bei Whatsapp-Gruppen kursieren Listen mit
       Läden, Arztpraxen – und Schulen, die man boykottieren sollte.
       
       Anfangs hat Monika Weltz gezögert, die taz zu empfangen. Sie wolle die
       Mädchen schützen, sagte sie am Telefon. Vor allem sei ihr wichtig, dass die
       Vision-Privatschule nicht wieder als „Gülenschule“ dargestellt wird wie in
       den Berichten der Lokalpresse. Denn genau das ärgert Weltz, die zuvor
       Schulleiterin eines Mädchengymnasiums in kirchlicher Trägerschaft war. „Wir
       haben mit diesem Gülen nichts zu tun. Absolut gar nichts.“
       
       Um das zu beweisen, führt die lebhafte 68-Jährige den Besucher persönlich
       durch das Schulhaus, kommt schnell ins Schwärmen für den Neubau, der erst
       vergangenes Jahr fertig wurde, wuschelt den Mädchen, die ihr auf dem Gang
       begegnen, durch die Haare, zeigt im Vorübergehen auf die Siegerurkunden des
       landesweiten Lesewettbewerbs, während sie die hohe Zahl der Musik-AGs an
       ihrer Schule rühmt. Schließlich bietet sie an, nach der Erdkundestunde bei
       Herrn Wenger auch noch ihrem Deutschunterricht beizuwohnen. Ballade,
       Goethes „Erlkönig“.
       
       Als Weltz später in ihrem Büro Platz nimmt, fasst sie zusammen: „Wir sind
       eine ganz normale bayerische Schule, wir unterrichten nach Lehrplan, wir
       haben ja noch nicht einmal Religionsunterricht.“ In dem überdimensionierten
       Raum wirkt die zierliche Frau fast verloren. Doch wenn sie an die
       Unterstellungen der vermeintlichen Erdoğan-Fans denkt, spürt man: Weltz
       kann ihren Feind klar verorten. „Man wirft uns vor, wir würden die Mädchen
       im Sinne dieses Gülen erziehen! Ich finde es schlimm, wenn Erdoğan die
       Türken in Deutschland so aufwiegelt und uns so in den Ruin treibt.“
       
       ## Fünf Träger
       
       Die Vision-Privatschule ist eine staatlich genehmigte Ersatzschule. Für den
       Bau oder die Ausstattung des Schulgebäudes ist also nicht wie üblich die
       Gemeinde oder Stadt zuständig, sondern ein privater Träger. Bei der
       Vision-Privatschule sind das drei lokale Nachhilfeinstitute, ein Bildungs-
       und ein Kulturzentrum, alle gegründet von Personen aus der türkischen
       Community. Ist die Vision-Privatschule damit eine „Gülenschule“?
       
       Nein, sagt Schulleiterin Weltz. Hört man sich bei Gülen-nahen Vereinen um,
       heißt es: Türken, die Schulen bauen – statt Moscheen, wie es Gülen mal
       gefordert hat –, müssen von dem Prediger zumindest inspiriert sein. Kenner
       der Szene identifizieren drei der fünf Träger der Vision-Privatschule als
       eindeutig Gülen-nah. Fakt ist aber auch: Für den Unterricht oder für
       Personalentscheidungen sind die Träger nicht zuständig.
       
       Die Lehrergehälter etwa bezahlt das bayerische Kultusministerium. Damit
       sind jedoch nur rund 60 bis 70 Prozent der Schulausgaben gedeckt. Das
       restliche Geld muss die Vision-Schule über Internatsgebühren einnehmen. 600
       Euro im Monat kostet der Schulbesuch. Dafür wohnen die Mädchen in den
       Doppelzimmern des früheren Hotels, das jetzt die Realschule ist, werden in
       der schuleigenen Mensa bekocht und dürfen sogar den Swimmingpool im Keller
       benutzen.
       
       Ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis, findet Monika Weltz. Der
       Einnahmeneinbruch stellt die Schulleiterin vor ernste Probleme: Die
       Schulträger haben gerade erst rund 5 Millionen Euro für den Neubau des
       Gymnasiums springen lassen. „Wenn uns jetzt die Mädchen wegbrechen“, sagt
       Monika Weltz und blickt sich in ihrem Büro um, „ist unsere Zukunft in
       Gefahr.“
       
       ## Bis hin zu Morddrohungen
       
       So wie der Vision-Privatschule ergeht es derzeit vielen Einrichtungen in
       Deutschland, die als Gülen-nah gelten. Und es trifft nicht nur die rund 30
       Schulen und 150 Nachhilfeinstitute, die angefeindet werden. Auch
       Unternehmer klagen über Umsatzeinbußen, Sachbeschädigungen und sogar
       Morddrohungen. In die von der Türkei gesteuerten Ditib-Moscheen trauen sich
       Gülen-Anhänger oft nicht mehr hinein.
       
       Der Mann, der sagt, er sei in Deutschland offizieller Ansprechpartner für
       die Gülen-Bewegung, erlebt all das am eigenen Leib. Ercan Karakoyun
       empfängt in einem stilvollen Büro in einer der besten Lagen Berlins. Der
       Gendarmenmarkt ist 50 Meter entfernt, der Aufzug in dem sanierten Altbau
       hat antiquarischen Wert, die Bürowände zieren leinwandgroße Fotodrucke vom
       Deutschen Reichstag und der Spree bei Nacht.
       
       200 Quadratmeter für vier Angestellte, 5.000 Euro Monatsmiete. Bisher lebte
       die „Stiftung Dialog und Bildung“ auf großem Fuß, demnächst wird sie sich
       von dem Luxus verabschieden. ,„Angesichts der momentanen Lage müssen wir an
       Miete sparen“, sagt Karakoyun, der mit fortgeschrittener Glatze deutlich
       älter als 36 aussieht, und zeigt ein flüchtiges Lächeln.
       
       Das Geld für die Stiftung kommt von denen, die ihr wohlgesinnt sind.
       Zwischen 500 und 2.000 Euro zahlen Unternehmer für das jährliche
       Fundraisingdinner. In den vergangenen Jahren kamen jedes Mal um die 200.000
       Euro zusammen.
       
       ## Spender bleiben weg
       
       Seit dem Putschversuch, verrät Karakoyun, der im Ruhrgebiet aufgewachsen
       ist, hätten sich selbst langjährige Unterstützer zurückgezogen. „Ein
       Geschäftsmann, der uns immer etwas gespendet hat, hat mich angerufen und
       gesagt, dass er um seine Geschäfte fürchtet.“
       
       Karakoyun weiß um die Vorbehalte gegen seine Bewegung, der nach seinen
       Angaben 50.000 bis 100.000 angehören. Vielen gilt sie als intransparent.
       „Außenstehende verstehen oft nicht, wer sich wo engagiert. Aber
       Türkeistämmige wissen das genau.“
       
       Deshalb würde er allen Schulen raten, sich nicht nach ihren Trägervereinen
       zu nennen. Um klarzumachen: Wir sind staatliche Schulen, hier wird rein
       nach Lehrplan unterrichtet, eine religiöse Einflussnahme findet nicht
       statt. Die Berliner Wilhelmstadtschulen, die bis vor ein paar Jahren nach
       dem Trägerverein Tüdesb benannt waren, sind heute froh um ihren neuen
       Namen. Zwar hatten auch sie zum neuen Schuljahr 80 der insgesamt 580
       SchülerInnen verloren. Aber viele Eltern assoziieren sie nicht mehr sofort
       mit der Gülen-Bewegung. Den neuen Namen hat sich Abuzer Zambak einfallen
       lassen.
       
       ## Die Schule umbenennen
       
       An der Stoffhose und dem karierten Pollunder erkennt man die anatolische
       Heimat des Mannes, der sein Erfolgskonzept von Berlin nach
       Jettingen-Scheppach gebracht hat. Auf dem Tisch steht ein Glas dampfender
       Çay, daneben liegt ein Sesamkringel. „Aus unserer Mensa“, freut sich
       Zambak. Als Geschäftsführer ist er der Kontaktmann zu den Trägervereinen
       der Vision-Privatschule. Ob diese der Gülen-Bewegung nahestehen oder nicht,
       spiele für seine Arbeit keine Rolle. „Einen Einfluss auf den Unterricht
       nehmen unsere Träger nicht“, sagt Zambak entschieden. Deshalb sei die
       Änderung des Schulnamens längst überfällig. Zambaks Vorschlag:
       Mindeltalschule, benannt nach einem 77 Kilometer kurzen Nebenfluss der
       Donau.
       
       Schulleiterin Weltz ist begeistert. „Das unterstreicht unsere Verwurzelung
       mit der Gegend.“ Sie hofft darauf, dass die Schule mit dem neuen Namen
       endlich das Stigma ablegt, das ihr von Anfang an nicht einleuchten wollte.
       „Wenn ein CSUler einen Gemüseladen eröffnet, sagen die Leute doch auch
       nicht, das ist CSU-Laden.“
       
       22 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Pauli
       
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