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       # taz.de -- Die Wahrheit: Reichstag on the Rocks
       
       > Volkes Stimme hat gesprochen: Deutschlands Bürger wollen ab sofort die
       > Demokratie einfrieren. Ein neuer Gesetzentwurf ist auf dem Weg …
       
   IMG Bild: Bis auf Weiteres schockgefrostet: das Berliner Regierungsviertel
       
       „Will Markus Schwarz den Reichstag einfrieren?“ So wird die Bild-Zeitung
       titeln – übermorgen, nach seiner Pressekonferenz, zusammen mit einem
       gephotoshoppten Bild eines riesigen Eiswürfels als Reichtagskuppel. „Das
       ist natürlich Unsinn“, sagt Markus Schwarz: „Niemand hat die Absicht, den
       Reichstag einzufrieren. Aber solche Schlagzeilen lenken natürlich die
       Aufmerksamkeit auf unsere Initiative.“
       
       Markus Schwarz ist der Initiator der Bewegung „Frozen Democracy –
       Demokratie einfrieren“. Eigentlich ist die Idee ganz einfach. So einfach,
       dass Markus Schwarz sich manchmal immer noch wundert, wieso niemand vor ihm
       darauf gekommen ist. Deutschland hat im Moment ein frei und demokratisch
       gewähltes Parlament mit stabilen Mehrheiten und einer ganz ordentlichen
       Opposition. „Na ja, die könnte etwas stärker sein, aber das ist jetzt eben
       so, kann man nichts mehr machen“, resümiert Schwarz.
       
       Im September ist Bundestagswahl. Schaut man auf die derzeitige Entwicklung,
       könnten politische Kräfte gewählt werden, die ein Demokrat wie Markus
       Schwarz nicht gern unter der Reichstagskuppel haben will. Auf die Idee, den
       Bundestag einfach auf Eis zu legen, kam er nach den ersten Erfolgen der AfD
       auf Landesebene.
       
       ## Fatale Wahlentwicklung
       
       Der Plan von Schwarz sieht so aus: „Die Zusammensetzung des derzeitigen
       Bundestags soll bis auf Weiteres per Gesetz beibehalten werden. Die
       kommende Bundestagswahl wird auf unbestimmte Zeit verschoben. So stellen
       wir sicher, dass der Bundestag und die derzeitige Regierung ungestört
       weiterarbeiten und dass keine extremistischen Kräfte in den Bundestag
       eindringen können.“
       
       Einst war die Piratenpartei – „Gott hab sie selig“, bemerkt Markus Schwarz
       hinter seinem eisgrauen Büromöbel emphatisch –, „für liquid democracy. Und
       wir sind jetzt eben für frozen democracy“, so der drahtige Pullunderträger:
       „Frozen Democracy, das klingt cool, das klingt frisch, das klingt nach
       Urlaub und Frozen Daiquiri und nach dem Disney-Film mit Anna und Elsa und
       dem lustigen Schneemann Olaf.“
       
       Die Werbung für seine Initiative läuft auf Hochtouren. Gestern sind die
       neuen Flyer aus der Druckerei gekommen. Markus Schwarz schiebt sie über den
       Tisch. „Bundestag on the Rocks“, steht auf einigen. „Schoko, Vanille,
       Erdbeer, Bundestag“, auf anderen. „Und dann die hier“, fährt er fort und
       öffnet einen Karton mit Plastikkugelschreibern. Sie sehen aus wie
       langgezogene Eiswürfel, weiß-blau und halb durchsichtig, auch sie tragen
       den Claim: „Bundestag on the Rocks“. Markus Schwarz nimmt jeden Stift
       einzeln heraus und probiert akribisch aus, ob er schreibt.
       
       In anderen Bereichen unseres Lebens werde das Einfrieren ja schon längst
       praktiziert, fährt er fort. „Wir haben die Vorratsdatenspeicherung, falls
       mal das Internet ausfällt. Bundesminister de Maizière hat zur Bevorratung
       mit Lebensmitteln aufgerufen, falls bald wieder Krieg ist. Meine Oma hat
       früher Obst eingekocht für schlechte Zeiten. Heute gibt es Tiefkühlobst und
       -gemüse. Da kann man doch auch mal die Demokratie für ein paar Jahre kühl
       lagern, damit sie frisch bleibt. Für Zeiten, wo man mal eine
       funktionierende Demokratie braucht – da kann sie dann wieder aufgetaut
       werden.“
       
       Wann wird das sein?, fragen wir nach. „Das hängt natürlich davon ab“,
       prognostiziert Markus Schwarz, „wann die politische Lage in unserem Land es
       wieder zulässt, zu wählen. Ein genauer Zeitpunkt steht nicht in unserem
       Gesetzentwurf. Wir orientieren uns an völlig anderen Faktoren der
       politischen Willensbildung: So dürfen rechte Parteien nur in maximal zwei
       Bundesländern vertreten sein, die nicht aneinander grenzen.“
       
       Ob das Einfriervorhaben nicht alles in allem riskant sei, wollen wir wissen
       – denkt man allein an die Überalterung der Abgeordneten. „Nein, nein“,
       beschwichtigt Markus Schwarz, „das ist ein Missverständnis. Wir frieren ja
       nur den abstrakten Bundestag ein, also die aktuelle Zusammensetzung von
       CDU/CSU 41,5 Prozent, SPD 25,7, Linke 8,6, Grüne 8,4. Die Anzahl der Sitze
       bleibt unverändert, wer darauf sitzt, das bestimmen die Parteien weiterhin
       selbst. Wenn ein Abgeordneter nicht mehr will oder kann oder keine Lust
       mehr hat oder krank wird oder stirbt, dann kommt halt der nächste aus der
       Liste dran. Dazu brauchen wir ja keine Wahlen.“
       
       ## Geschlagenes Maskottchen
       
       Markus Schwarz hat parteiübergreifend Unterstützer, jedenfalls aus den
       aktuell im Bundestag vertretenen Parteien. Andere sind dagegen, das bekommt
       er derzeit oft zu spüren. „Gerade AfD- und FDP-Anhänger kommen an unsere
       Info-Stände, fangen Streit an oder verwickeln unsere Helfer in
       Schlägereien. Unser Maskottchen ‚Flocki‘ “ – Markus Schwarz zeigt auf einen
       kugelrunden Schneemann mit Möhren-Nase und Basecap statt Zylinderhut –,
       „also Thorsten, der hier neben meinem Schreibtisch im Flocki-Kostüm steckt,
       wurde erst letzte Woche getreten und geschlagen. Glücklicherweise ist das
       Kostüm gut gepolstert.“
       
       Aber das seien Nebensächlichkeiten, so etwas passiere nun mal bei der
       politischen Arbeit. Nächste Woche ist die erste Lesung des Gesetzentwurfs
       im Bundestag. Klappt alles, müssen wir bald keine Angst mehr vor Parteien
       wie der AfD und Konsorten haben.
       
       Markus Schwarz ist glücklich.
       
       24 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael-André Werner
       
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