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       # taz.de -- Zukunft von Bus- und Bahnverkehr: „Der ÖPNV funktioniert nicht intuitiv“
       
       > Der öffentliche Nahverkehr ist ein einziges Chaos, sagt Mobilitätsexperte
       > Andreas Knie. Um das zu ändern, müsste man sich fragen, was der Kunde
       > eigentlich will.
       
   IMG Bild: Gibt es über den deutschen ÖPNV auch irgendetwas Positives zu sagen? – „Nein“
       
       taz.am wochenende: Herr Knie, was sind die größten Probleme des
       öffentlichen Personennahverkehrs? 
       
       Viele. Er müsste sich völlig neu erfinden und überhaupt erst mal wieder auf
       die Füße gestellt werden. Der ÖPNV in Deutschland ist von seiner Tradition
       her ein Bereitstellungsverkehr. Ihm geht es also nicht darum, was Kunden
       mit ihm machen und wie sie mit ihm klarkommen. Als der öffentliche
       Nahverkehr erfunden wurde, gab es keine Alternativen. Es gab keine Autos.
       
       Und heute? 
       
       Heute müsste sich der ÖPNV fragen, was der Kunde eigentlich will. Bislang
       werden Tarife und Angebote allein davon bestimmt, wie viele Fahrzeuge
       existieren und wie die Betriebslogik funktioniert. Heraus kommen Dinge wie
       Streifenkarten und Fahrkartenautomaten, die keiner mehr braucht.
       
       Wie sähen die Dinge denn aus, würde man die Kunden fragen? 
       
       Die Kunden würden sich einen viel einfacheren Zugang organisieren. Es
       müsste alles viel einfacher werden. Das Abo, das beispielsweise in Berlin
       erworben wurde, könnten die Kunden auch in Hamburg nutzen. Einfach
       einchecken und wieder auschecken, und das egal, wo man gerade ist. Das
       Handy hat gezeigt, wie man in kurzer Zeit erfolgreich sein kann: Einfach
       einloggen und telefonieren. Genauso muss auch der zukünftige ÖPNV
       funktionieren.
       
       Woran liegt es, dass dieser Zustand nicht längst geändert wurde? 
       
       Im Moment fehlen dem ÖPNV der Druck und natürlich auch die Möglichkeiten.
       Denn ÖPNV funktioniert so, dass der Staat finanziert und damit auch den
       Verkehr bestimmt, den er haben will. Für unternehmerisches Denken ist im
       ÖPNV kein Platz, es wird bereitgestellt und gefahren. Wie gesagt: Der ÖPNV
       stammt aus einer Zeit, als es keine Alternativen gab. Jetzt müssen die
       Betreiber um Kunden werben und dafür auch neue Dienstleistungen entwickeln.
       Warum kann der ÖPNV nicht alle Verkehrsmittel wie Autos, Fahrräder zu einem
       Ganzen vereinen?
       
       Gibt es über den deutschen ÖPNV auch irgendetwas Positives zu sagen? 
       
       Nein. Es gilt aber: Wer ihn kennt, kommt gut voran. Wer ihn aber zum ersten
       Mal probiert, hat große Schwierigkeiten. Menschen, die älter werden und
       nicht mehr selber Auto fahren wollen, oder Leute, die vom Land in die Stadt
       ziehen, kommen mit der Vielfalt der Tarife und Nutzungsbedingungen nur
       selten klar. Am Ende bleiben immer nur die Stammkunden übrig.
       
       Vor welchen Schwierigkeiten stehen Touristen in einer Stadt, wenn sie den
       ÖPNV das erste Mal benutzen wollen?
       
       Wer fremd in einer Stadt ist, für den ist der ÖPNV kaum nutzbar, weil er
       nicht intuitiv funktioniert. Tarifstrukturen, Waben, Zonen, Ringe,
       Gültigkeitsräume – ein einziges Chaos. Der ÖPVN einer anderen Stadt – das
       geht selbst mir so – ist ein Buch mit sieben Siegeln.
       
       In welchen deutschen Städten ist es am kompliziertesten, Straßenbahn, Bus
       oder U-Bahn zu benutzen? 
       
       Da unterscheiden sich die Städte kaum. In Berlin ist es sogar noch relativ
       einfach. Hier hat man immerhin den Vorteil, dass man sich einfach an die
       Straße stellen kann – irgendwas kommt schon irgendwann vorbei. Je
       ländlicher die Regionen werden, desto komplizierter scheint es zu sein.
       
       Gibt es in Europa oder der übrigen Welt ein leuchtendes Beispiel? Ein
       Vorbild für einen gelungenen Nahverkehr? 
       
       Leider auch nicht wirklich. Denn was für deutsche Städte gilt, gilt auch
       meist für andere Städte in Europa. In New York ist es etwas einfacher, was
       aber vor allem an der einfachen Straßenstruktur liegt. In Singapur ist
       zumindest das Bezahlen einfach, aber generell ist der ÖPNV auch in anderen
       Teilen der Welt kompliziert.
       
       Apps wie Touch&Travel von der Deutschen Bahn wollen ein fahrscheinloses
       System für den ÖPNV unterstützen. Hört sich gut an. Aber Leute ohne
       Smartphone werden von diesem System auch ausgeschlossen. 
       
       Klar gibt es Leute, die sehen noch gerne Schwarzweißfilme, und die haben
       auch noch ein Faxgerät oder einen Plattenspieler. Aber hallo? Willkommen in
       der Jetztzeit! Es wird in wenigen Jahren keinen Menschen mehr geben, der
       sich öffentlich bewegt und nicht über ein Smartphone oder ein Handy
       verfügt. Eine Welt ohne Digitalisierung kann man sich wünschen, wir sind
       aber der Treiber der Digitalisierung. Jedes Jahr wird der digitale Konsum
       weitergetrieben, weil wir immer mehr Möglichkeiten entdecken, immer mehr
       Optionen bekommen, und dieser Konsum macht im Nahverkehr nicht halt.
       
       Wie sähe diese digitale Zukunft für den Nahverkehr und die Verbraucher aus? 
       
       Sie fahren einfach mit Ihrem Smartphone oder Ihrem Device, das kann auch
       Ihre Uhr sein, vielleicht später Ihre Brille und ganz viel später Ihr Chip.
       Sie können einfach jedes beliebige Verkehrsmittel benutzen, checken ein und
       nach der Fahrt wieder aus, fertig. Ganz einfach. Keine Automaten, keine
       Streifenkarte, und das überall.
       
       Wo muss man anfangen, um den ÖPNV zukunftsfähig zu machen? 
       
       Mit einfachen Zugängen und neuen Finanzierungsformen. Statt den Verkehr wie
       althergebracht zu bestellen, kann man mit den Unternehmen
       Zielvereinbarungen treffen. Bezahlt wird nicht nach der Anzahl der Busse
       und Bahnen, sondern nach den Kunden. Wer mehr Kunden binden kann, bekommt
       mehr Geld.
       
       Ist denn den Betreibern des ÖPNV nicht bewusst, dass sie ein Problem haben? 
       
       Doch. Aber es braucht eben einfach sehr lange, sich von dieser historischen
       Erblast zu befreien, und es braucht aber auch andere, bessere politische
       Rahmenbedingungen, die das ermöglichen.
       
       Und was passiert aktuell, um das ganze Chaos im ÖPNV zu überwinden? 
       
       Es gibt bereits Initiativen, die versuchen, das Chaos abzustellen und den
       ÖPNV digital gleichsam neu unter der Überschrift „Mobility inside“ zu
       erfinden. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen und mehrere lokale
       ÖPNV-Unternehmen sind gerade dabei, sich zu vernetzen und tatsächlich einen
       Fahrschein für alle Gebiete und einfach zugänglich zu machen. Es wird ein
       Fahrschein sein, der auch für Auto und Mietrad gilt. Es gibt also
       tatsächlich Licht am Ende des Tunnels.
       
       28 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sophie Herwig
       
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