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       # taz.de -- Schweigende Mehrheit: In Landnot
       
       > Wer Menschen in Seenot nicht hilft, macht sich strafbar. Auf der
       > Balkanroute aber sind Menschen in Landnot. Sie erfrieren und keiner guckt
       > hin.
       
   IMG Bild: Ein junger Mann wäscht sich in einer verlassenen Lagerhalle in der Nähe von Belgrad
       
       Da, diese Stille. Dieses wegschauende Schweigen. Dieses Gefühl, dass etwas
       nicht geschehe, obwohl es geschieht, dass es niemanden anginge, obwohl es
       alle angeht. Eine Leerstelle auf der Landkarte der Empathie ist entstanden.
       
       Landkarte: die, Substantiv.
       
       Es ist die Landkarte des Balkans, um die es hier geht: Bulgarien, Serbien,
       Ungarn. Eisige Kälte hat sich über die Länder gelegt. Über Griechenland
       hockt die Kälte auch, dort stürzten Zelte ein unterm Schnee.
       
       Auf den griechischen Inseln harren Flüchtlinge aus, entlang der Grenzen im
       Balkan harren sie aus. Auch im Zentrum von Belgrad unweit des Bahnhofs.
       Dort hausen sie in alten Lagerhallen, ohne Fenster, ohne Türen, übernachten
       bei Minusgraden im Freien, stecken im Schnee fest, verbrennen alles,
       Autoreifen, Plastik, Schrott, um sich zu wärmen. Von beißendem Rauch
       berichten die Reporter, wenn sie berichten.
       
       Die Flüchtlinge harren aus in der Hoffnung, irgendwie weiter zu kommen.
       Weiter nach Westen. Aber die Grenzen sind dicht. Es sind Flüchtlinge
       erfroren in den letzten Wochen; 40 Tote bisher heißt es. Andere sind krank,
       haben Erfrierungen. Wegsehen. Wegsehen. Kinder sind darunter.
       
       Hilfsorganisationen sind entsetzt. Die Bedingungen, unter denen die
       Flüchtlinge hausten, seien unmenschlich, so unisono die Einschätzung etwa
       von Caritas, Rotem Kreuz, dem UN-Flüchtlingshilfswerk. Und auch von den
       SOS-Kinderdörfern, die die Partnerorganisationen in den Balkanländern
       aufgefordert haben, zu helfen.
       
       SOS: das, Substantiv.
       
       Wenn Flüchtlinge in Seenot geraten, gibt es immerhin noch Handelsschiffe,
       Küstenwachen, die Marine, die sie aus ihren maroden Booten holen. Von
       „Rettungsoperationen“ ist dann zu lesen. Wer Leuten in Seenot nicht hilft,
       macht sich eigentlich strafbar.
       
       Auf der Balkanroute sind Flüchtlinge nicht in Seenot, sondern in Landnot,
       aber niemand ist zuständig. Die Kälte dort draußen ist hier: Kälte im
       Innern. Gehofft wird auf wärmere Tage.
       
       ## Den Mund halten
       
       Keine Autorität aus den Kirchen, kein Idol aus der Kultur, keine
       Coverperson aus der Politik hat bisher öffentlich das humanitäre
       Winter-Flüchtlingsdesaster auf dem Balkan angeprangert, ans Mitgefühl
       appelliert, Bereitschaft eingefordert, die Leute nicht erfrieren zu lassen,
       alternative Schutzideen entwickelt, Verantwortung eingeklagt für die
       Entmenschlichung, die den Flüchtlingen in dieser Kälte droht. Warum nicht?
       Aus Angst, den Populisten noch mehr Raum zu geben?
       
       Schwierig, darauf Antworten zu bekommen. Der CDU-Politiker Michael Brand,
       Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und humanitäre
       Hilfe, schreibt in einer Mail, dass viel getan werde, um die Winterhilfe
       auf dem Balkan zu fördern, dass das Thema Sicherheit nicht unterschätzt
       werden darf und es auch an der Kooperation von Flüchtlingen mangle, die
       sich nicht registrieren lassen und nicht in vorhandene Winterquartiere
       gehen wollten.
       
       Die katholische Kirche wiederum ist sich nicht einig. Richtig sei, meint
       eine Vertreterin der Kommission Weltkirche und Migration der Deutschen
       Bischofskonferenz, dass bisher kein offizieller Appell rausgegangen sei.
       Der Pressesprecher protestiert: Stefan Heße, Erzbischof in Hamburg und
       Sonderbeauftragter für Migration, habe in Predigten sehr wohl das Problem
       benannt. Es sei unser Fehler, der Fehler der Journalisten, wenn wir nicht
       richtig recherchierten.
       
       Eine Politikerin aber hatte sich doch zu Wort gemeldet: die junge
       Bundestagsabgeordnete Luise Amtsberg, flüchtlingspolitische Sprecherin der
       Grünen. „Die aktuelle Politik des Wegschauens darf sich nicht verfestigen“,
       sagte sie im Tagesspiegel.
       
       Man meine, sagt sie später am Telefon, die Flüchtlingsproblematik mit Geld
       gelöst zu haben. Serbien bekommt Geld von der EU, um feste Unterkünfte für
       die Flüchtlinge zu bauen, aber die serbische Regierung rufe das Geld nicht
       ab. Sie wollen die Flüchtlinge nicht haben.
       
       Ihre Analyse ist klar: Man wollte den Migrationsdruck durch die Schließung
       der Balkanroute aus dem Fokus der Aufmerksamkeit nehmen. Wenn das nicht
       funktioniere, gebe es den unausgesprochenen Anspruch an uns, zu helfen –
       das aber spreche niemand aus.
       
       ## Notlösungen
       
       Und wie helfen? Zwei Möglichkeiten, sagt Amtsberg: Entweder noch mehr Geld
       an die Balkanstaaten geben oder „die Menschen aus der Situation
       herausholen, ein zweites Budapester Bahnhofsszenario wie im Herbst 2015.
       Diese humanitäre Geste aber scheint niemand zu wollen.“
       
       Warum nicht? Wegen der AfD, wegen der Rechten. Diese trieben die Regierung
       vor sich her, meint Amtsberg. Aus wahltaktischen Überlegungen sagen die
       Politiker nichts. „Weil wir nicht mehr über die Flüchtlinge reden, reden
       wir auch nicht über Alternativen, wie man mit Flucht umgehen könnte.“ Das
       alles stärke nicht den Wertekonsens Europas. „Es ist doch“, sagt sie,
       „unser Verfassungsgebot, Menschen in Not zu helfen.“
       
       „Ja“, sagt Frank Schwabe, SPD-Mitglied im Bundestagsausschuss für Migration
       und humanitäre Hilfe am Telefon, „wir sitzen in der Angstfalle. Das ist
       bitter.“ Aus Angst vor den Populisten lasse man sich diktieren, dass
       Humanität ein Problem und Barmherzigkeit Schwäche sei. „Aber man darf sich
       seine moralische Integrität nicht von den Rechten zerstören lassen.“ Es
       gebe, meint er, im Rahmen des Flüchtlingsdeals, der Deutschland
       verpflichtet, Flüchtlinge aus Griechenland und Italien aufzunehmen, jetzt
       den Vorschlag, die Leute, die im Balkan festsitzen, mit einzubeziehen. Sie
       waren ja in der Regel vorher in Griechenland. Wann das umgesetzt werden
       kann? „Ja, wann.“
       
       „Schweigende Mehrheit“ – lange war damit in Deutschland das Schweigen der
       Mehrheit angesichts der Nazigräuel gemeint. Seit der Wahl von Donald Trump
       zum US-Präsidenten und seit die Briten entschieden, die EU zu verlassen,
       erfährt der Begriff eine neue Deutung. „Schweigende Mehrheit“ wird nun
       jener Teil der Bevölkerung genannt, der bei der gesellschaftlichen
       Gestaltung nicht mitbedacht wird, die Abgehängten, die
       Außen-vor-Gelassenen. Viele von ihnen seien, so die Analysen in den
       Sozialwissenschaften, für die Argumente der Populisten zugänglich. Es wirkt
       paradox: Aus Angst vor der neuen schweigenden Mehrheit wiederholt sich das
       Schweigen der Mehrheit. Auf der Strecke bleiben Mitgefühl und die offene
       Zivilgesellschaft.
       
       Zivilgesellschaft: die, Substantiv.
       
       28 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Waltraud Schwab
       
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   DIR Populismus
   DIR Schwerpunkt USA unter Trump
   DIR Einreiseverbot
       
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