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       # taz.de -- CTM-Festival in Berlin: Singen wie Maschinen
       
       > Wenn menschliche Körper wie Synthesizer klingen: Beim Festival CTM
       > verschwimmen die Grenzen zwischen Elektronik und analoger „Weltmusik“.
       
   IMG Bild: Inspiriert von Feminismus und lautem Dröhnen: Die chinesischstämmige Noise-Musikerin Pan Dajing spielt auf dem CTM Festival
       
       Ein Erlebnis aus den achtziger Jahren: Die Mutter einer Klassenkameradin,
       dezidiert umweltbewusst im Auftreten, sprach über Musikinstrumente und was
       sie von ihnen im Einzelnen hielt. Ein Klavier, so ihr Verdikt, sei ja
       eigentlich kein richtiges Instrument, da der Ton mechanisch erzeugt werde,
       durch bloßen Tastendruck und ohne sonstige körperliche Beteiligung bei der
       Klanggestaltung. Von so durch und durch „mechanischen“ Dingen wie den
       atomstrombetriebenen Synthesizern war im Gespräch gar nicht erst die Rede.
       Sie selbst spielte Flöte.
       
       Was würde sie wohl zu einem Konzert der norwegischen Sängerin Stine Janvin
       Motland sagen, die beim Festival CTM mit einer Darbietung ihrer „Fake
       Synthesizer Music“ zu hören sein wird? Motland nutzt dabei ihre Stimme zum
       Erzeugen von Tönen, die, wenn man sie ohne Vorwarnung hört, tatsächlich wie
       die Emanationen eines elektronischen Apparats anmuten. Mögliche Reaktion
       der mechanofoben Mutter: Na also, man braucht die komplizierten
       Elektronikkisten gar nicht, geht doch alles mit dem Mund.
       
       Ganz abwegig wäre so eine Einschätzung nicht. Denn im Grunde funktioniert
       die menschliche Stimme ähnlich wie ein Synthesizer, mit Filtern und anderen
       generatorenähnlichen Qualitäten des Organs. Man braucht nur die Öffnung des
       Mundes, unterstützt vom Rachenraum, beim Singen zu ändern, schon hat man so
       etwas wie Obertongesang. Oder, um es weniger esoterisch wirken zu lassen,
       kann man mit ähnlichen Techniken auch Kehlkopfgesang hervorbringen. Wie man
       ihn vor allem aus Tuva, einer Region im Süden Sibiriens, kennt.
       
       ## Gender-Bending mit traditionellen Mitteln
       
       Tuvinische Barden gibt es beim CTM zwar keine zu hören, dafür eröffnet die
       kanadische Inuit-Kehlkopfsängerin Tanya Tagaq am Samstag das Festival mit
       einem Konzert im HAU1, in dem sie mit ihrer Stimme Dinge macht, die den
       Oktavumfang vernehmlich nach unten erweitern und stark an die Gesangskünste
       von Doom-Metal-Vokalisten erinnern. Ein weiterer Effekt dieser Technik ist,
       dass man beim Kehlkopfgesang, zumindest aus ungeschulter Perspektive, nicht
       mehr unterscheiden kann, ob die Töne jetzt von einer Frau oder einem Mann
       kommen. Gender-Bending mit traditionellen Mitteln, wenn man so möchte.
       
       Tagaq nutzt ihre Musik denn auch für politische Zwecke im Kampf für die
       Rechte von Frauen wie indigenen Völkern. Mit Tagaqs Auftritt zur Eröffnung
       wagt sich der CTM weiter in eine Richtung, die man vom Festival so vor ein
       paar Jahren vielleicht nicht erwartet hätte. Der Schwerpunkt bleibt nach
       wie vor auf „abenteuerlicher Musik“, doch bewegt sich die Auswahl der
       Künstler zunehmend von den üblichen verdächtigen Regionen – Europa, USA,
       Japan etwa mit ihren „etablierten“ freien Szenen – zu bisher kaum
       erkundeten Rändern wie die Arktis. Der Erweiterung des Begriffs der
       abenteuerlichen Musik hin zu einer Art furchtlosen „Weltmusik“ wäre man vor
       einigen Jahren eventuell noch mit Stirnrunzeln begegnet.
       
       Was aber eher an der unglücklichen Karriere des Begriffs „Weltmusik“ liegen
       dürfte, der oft mit ähnlicher Skepsis beäugt wurde wie einst die „New
       Age“-Musik – beides recht große Geschichten in den behaglichen achtziger
       Jahren des Kalten Krieges. Und so wie dieser Tage längst New-Age-Anteile in
       die einst bevorzugt roh und rau dem Zukunftsgedanken verpflichtete
       Clubmusik eingesickert sind, werden entdeckungsfreudige Musiker inzwischen
       auch in vormals eher unzugänglichen Gefilden gesucht.
       
       ## Aufschrei der Maschinen
       
       Der Horizont der Musik wird begrenzt durch das Spektrum an Praktiken, die
       es rund um den Globus so gibt, was zu gegenseitigem Austausch allerorten
       und idealerweise nicht zu immer gleichartiger klingender Musik in den
       einzelnen Entstehungsländern führt.
       
       Wenn am Mittwoch daher ein Abend in Kooperation mit dem Teheraner
       SET-Festival auf dem Programm steht, sollte der Umstand, dass die
       versammelten Künstler wie etwa Siavash Amini zum Teil mit „westlichen“
       elektronischen Mitteln wie der Granularsynthese arbeiten, nicht als
       Bestätigung einer globalen Homogenisierungsthese verstanden werden, sondern
       vielmehr neugierig darauf machen, was für einen spezifischen Zugang die
       iranischen Musiker wählen, vertraute Strategien eingeschlossen.
       
       Und wenn die chinesische Musikerin Pan Daijing ihre Synthesizer für
       brachialen Noise-Techno verwendet, ist ebenfalls vor allem von Interesse,
       wie die Wahlberlinerin ihre Gerätschaften einsetzt, um sich nach eigener
       Auskunft von „Konservatismus“ zu begreifen. Energisch, kathartisch gar
       könnte es allemal werden. Politisch dürfte das gleichfalls gemeint sein.
       Ein Aufschrei der Maschinen, wenn man so möchte.
       
       27 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tim Caspar Boehme
       
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