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       # taz.de -- Debatte SPD unter Schulz: Erbe des schlecht gelaunten Königs
       
       > Sigmar Gabriel hinterlässt eine zerrissene Partei. Was sich unter Martin
       > Schulz ändern muss – und warum das am Ende auch Europa retten könnte.
       
   IMG Bild: Ein bisschen hiervon, ein bisschen davon: Sigmar Gabriel verkörperte die Zerrissenheit der SPD
       
       Es ist [1][ein Abgang], der zu Sigmar Gabriel passt: [2][grandios und
       narzisstisch]. Sein Verzicht auf die Kanzlerkandidatur zeigt die bei
       Politikern eher seltene Fähigkeit zu schonungsloser, kühler Selbstanalyse.
       Denn fast alles ist für die SPD besser, als mit ihm, dem unpopulären
       Gesicht der Großen Koalition, in den Wahlkampf ziehen zu müssen.
       
       Doch die Art dieses Rücktritts verdeutlicht das abgründige Verhältnis des
       SPD-Chefs zu seiner Partei. Die Entscheidung via Interview zu verkünden,
       vorbei an allen Gremien und entgegen allen eigenen Beteuerungen, ist mehr
       als nur selbstverliebt. Das war demonstrative Verachtung für Partei und
       Fraktion.
       
       So tritt ein schlecht gelaunter König zurück, kein Sozialdemokrat, der sich
       um seine Partei sorgt. Kann man sich vorstellen, dass Angela Merkel, ohne
       die CDU zu informieren, ihren Rücktritt als Kanzlerin per Zeitschrift
       verkündet? Bloß um mal mit Trommelwirbel die Bühne zu verlassen – und das
       auch nur halb?
       
       ## Ungefilterte Widersprüche
       
       Sigmar Gabriel ist, auch wenn er nun Außenminister wird, an seiner
       Sprunghaftigkeit gescheitert. Mal redete er mit Pegida-Fans, dann reckte
       der Vizekanzler rechtem Mob den Stinkefinger entgegen. Er klang wie ein
       Volkstribun und handelte wie ein Wirtschaftslobbyist. Gabriels
       Unberechenbarkeit wirkte so grell, weil sie schlaglichtartig die innere
       Zerrissenheit der Sozialdemokratie zum Vorschein brachte.
       
       Die möchte noch immer irgendwie Partei des kleines Mannes sein, aber auch
       selbstverständlicher Teil des liberalen, gehobenen Bürgertums. Sie
       reklamiert soziale Gerechtigkeit und höhere Moral für sich – und hat
       klammheimlich ein schlechtes Gewissen wegen der Agenda 2010 und gestiegener
       Waffenexporte. Gabriel verkörperte diese Widersprüche ungefiltert und
       herrisch, scheinbar je nach Tagesform und Rolle.
       
       Sein größter Fehler war die von Hybris angetriebene Überzeugung,
       gleichzeitig SPD-Chef und Merkels Wirtschaftsminister sein zu können. Als
       Minister votierte er polternd für TTIP und ungebremste Globalisierung und
       geriet damit in einen kaum lösbaren Konflikt. Er nahm die bei TTIP zu Recht
       skeptische Partei wie Schröder an die Kandare – und demontierte damit seine
       Glaubwürdigkeit als Parteivorsitzender.
       
       Das unsichere Selbstbild der SPD unter Gabriel zeigt sich auch in dem
       verspannten Verhältnis zu Medien. Die Parteispitze reagiert oft dünnhäutig
       und aggressiv auf Kritik – und lässt sich andererseits von medial erzeugten
       Stimmungen treiben. Vor der Bundestagswahl ließ sich die SPD von Artikeln
       im Spiegel dazu anstiften, Peer Steinbrück als Kanzlerkandidaten zu
       nominieren. Keine gute Idee. Er verkörperte die trügerische Hoffnung, die
       Union auf ihrem eigenen Feld, Bürgerlichkeit und Wirtschaftsnähe, schlagen
       zu können.
       
       Ist dies also die Fortsetzung zu 2013? Wieder eine stolpernde, aus der Not
       geborene Verlegenheitslösung? Martin Schulz als neuer Steinbrück? Es sieht
       ähnlich aus. Aber so ist es nicht. Schulz mag wenig Erfahrung mit dem
       innenpolitischen Betrieb haben. Aber er hat eine Botschaft. Und keine
       schlechte: Europa.
       
       Vor ein paar Monaten galt dies noch als Schulz’ Malus: Brüssel, EU,
       Eurokrise, all das erschien dem hiesigen Publikum bestenfalls als irgendwie
       wichtig, vor allem aber als fern, bürokratisch, unverständlich. Seit dem
       Brexit und dem bisher Unvorstellbaren – der Implosion der EU – erscheint
       dieser Malus als Bonus. Auf die USA und Trump hat Berlin keinen Einfluss.
       Doch ob die EU überlebt, wird nicht zuletzt in Berlin entschieden. Die
       Grenzen zwischen Innen- und Europapolitik sind zerflossen, das wird die
       Wahl in Frankreich im Frühjahr zeigen.
       
       Schulz ist Gabriel zwar in vielem ähnlich – ein eher rechter
       Sozialdemokrat, ein sozialer Aufsteiger mit polemischem Talent. Doch er
       weiß genau, wie skeptisch man in Paris, Madrid, Rom, Athen auf die
       Exportrekorde Deutschlands blickt, das von Eurokrise und Niedrigzinsen
       enorm profitiert. Um die EU zu retten, muss Berlin mit dem zerstörerischen
       Schwarze-Null-Fetisch brechen und Eurobonds ins Augen fassen – nicht als
       Geschenk, sondern gekoppelt an Reformen in Südeuropa. Eine EU, die
       Deutschland wirtschaftlich nutzt, aber den Süden langfristig ruiniert, wird
       zerbrechen. Das sind in Deutschland unbequeme Wahrheiten. Aber es gibt
       angesichts der fragilen EU jetzt die Chance, sie auszusprechen. Und es gibt
       wenige, die dies besser können als von Schulz geführte Sozialdemokraten.
       
       ## Ernsthafte Option Rot-Rot-Grün
       
       Viel wird davon abhängen, ob Schulz Gabriels erratischen Machostil als
       Parteichef fortsetzt oder ob er die Widersprüche der Sozialdemokratie
       auszutarieren versteht. Die SPD vertritt die Interessen von
       Bildungsaufsteigern und der Mittelschicht, die in Deutschland längst nicht
       so panisch ist wie in den USA. Auch die Ungleichheit ist (noch) nicht so
       krass wie dort. Ein Anti-Establishment-Wahlkampf à la Bernie Sanders würde
       in Deutschland scheitern, auch weil die Bundesdeutschen in Krisenzeiten
       traditionell zur Mitte neigen. Trotzdem muss die SPD schärfer und
       deutlicher als bisher die Abgehängten vertreten. Den verächtlichen Blick
       der Aufsteiger auf die Globalisierungsverlierer kann sich die
       Sozialdemokratie nur bei Strafe des Untergangs weiter leisten.
       
       Entscheidend wird zudem sein, ob die SPD plausibel machen kann, wie sie dem
       Schicksal als Merkels Juniorpartner entkommen will. Denn das wirkt auch auf
       die eigene Klientel eher deprimierend. Nur verstockte SPD-Rechte, die
       schlecht rechnen können, glauben an eine Ampel-Koalition. Schulz muss
       daher, wenn er Kanzler werden will, ernsthaft Rot-Rot-Grün als Möglichkeit
       ins Auge fassen. Das kann funktionieren, wenn die SPD klar macht, dass eine
       Mitte-links-Regierung kein Reißschwenk wäre, sondern eine behutsame Politik
       für mehr Gleichheit: mit einer brauchbaren Erbschaftsteuer, höheren Steuern
       für Superreiche, Bürgerversicherung, mehr Geld für Bildung.
       
       Politik für die Zufriedenen und die Frustrierten, solide Verlässlichkeit
       und ein standhaft vertretenes Reformprogramm für mehr Gleichheit – das wird
       ein komplizierter Spagat. Es ist ungewiss, ob die SPD mit Martin Schulz
       dazu in der Lage ist. Und auch, ob sie damit Erfolg haben wird. Doch seit
       Dienstag ist das immerhin wieder vorstellbar.
       
       28 Jan 2017
       
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