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       # taz.de -- Zeugnis einer Berliner Jüdin: Dann kam der gefürchtete Brief
       
       > Zwei Jahre bevor Auschwitz am 27. Januar 1945 befreit wird, berichtet
       > eine Berliner Jüdin über die Deportationen aus ihrer Heimatstadt.
       
   IMG Bild: Von überall in Europa wurden Juden deportiert – hier aus dem Warschauer Getto, aber auch in Berlin
       
       Im Oktober 1941 begann die Tragödie der „Abwanderung“ – so nannte die
       Gestapo die Evakuierung – in Berlin. Nach welchen Grundsätzen man dabei
       verfuhr, weshalb und wohin die Juden „abgewandert wurden“, hat noch kein
       Mensch ausfindig machen können. Tatsache ist, dass bis auf den heutigen Tag
       kein einziger Jude in Deutschland mehr, ob alt oder jung, reich oder arm,
       seines Bleibens sicher ist. Jeder muss darauf gefasst sein, über kurz oder
       lang abgeholt zu werden, sei es mit vorheriger Benachrichtigung oder ohne
       solche.
       
       In der ersten Zeit unseres Evakuiertwerdens (ich kann natürlich nur über
       Berliner Verhältnisse reden) fanden wir beim Nachhausekommen den schon
       jeden Tag erwarteten und gefürchteten Brief von der Wohnungsberatungsstelle
       vor. Mit zitternden Händen öffneten wir das Schreiben und fanden dann fast
       regelmässig* folgenden Inhalt vor: „Wir teilen Ihnen hierdurch mit, dass
       Ihre Wohnung auf Anordnung der Behörde zur Räumung bestimmt ist. Sie haben
       an dem und dem Tage (gewöhnlich zwei Tage später) um 10 Uhr vormittags in
       der Wohnungsberatungsstelle Oranienburger Str. 31 zu erscheinen.
       Mitzubringen ist der Mietskontrakt und die und die Papiere.“ Die Papiere
       waren, soweit ich mich heute noch erinnern kann, die Unterlagen über unsere
       Vermögensverhältnisse.
       
       In der ersten Zeit wussten die Empfänger solcher Briefe noch nicht, dass an
       eine solche Kündigung sich die Evakuierung anschliessen pflegte. Je mehr
       Evakuierungen aber vorkamen, desto mehr häuften sich die Selbstmorde, und
       ein grosser Teil der auf diese Weise Benachrichtigten machten erst gar
       nicht den Weg zur Oranienburger Strasse.
       
       Die ersten Evakuierungen fanden, soweit mir bekannt ist, nach Litzmannstadt
       (Lodz) statt, dann später, besonders im November 1941 bis Januar 1942 nach
       Kowno, Warschau und Riga. Von all meinen lieben Freunden und Verwandten,
       die in dem letzten Jahre evakuiert worden waren, habe ich nie wieder etwas
       gehört. Von anderen wiederum hörte ich, sie hätten noch eine Zeitlang, vor
       allem aus Warschau und der dortigen Umgegend, kurze Nachrichten erhalten.
       Eins aber weiss ich ganz genau: Seit einigen Monaten vor meiner Abreise kam
       auch aus Warschau keine Nachricht mehr, und von denen, die im letzten
       Winter nach Riga gekommen waren, ist überhaupt niemals irgend eine
       Nachricht angekommen.
       
       ## Gesammelt in der Synagoge
       
       Die jenigen, die zur Evakuierung bestimmt waren, wurden gewöhnlich in der
       Synagoge in der Levetzowstrasse gesammelt, soweit sie nicht, wie dies seit
       dem Sommer 1942 der Fall war, nach Theresienstadt kamen. In der Synagoge
       bleiben sie zwei bis drei Tage, und für diese Zeit wurden meist Helfer und
       Helferinnen auf Veranlassung der Gestapo dorthin geschickt (die Helfer
       waren natürlich Angestellte der Jüdischen Kultusvereinigung), um den armen
       Verurteilten das Leben im Sammellager noch etwas zu erleichtern.
       
       So musste ihnen die Helfer dort die notwendigsten Mahlzeiten verabreichen,
       die von einer jüdischen Gemeinschaftsküche dorthin gebracht wurden, und sie
       halfen auch bei der Beförderung des Gepäcks, von dem die wenigstens wohl je
       etwas wiedergesehen haben durften. Habe ich doch selbst einmal bei einer
       Sonderarbeit, die die Jüdische Kultusvereinigung auf Befehl der Gestapo
       auszuführen hatte, die weissen Transportnummern der Abgewanderten aus den
       Koffern herauswachsen und den Inhalt der zurückgebliebenen Koffer sortieren
       müssen.
       
       Der Schauplatz dieser Arbeit war einmal eine der grossen Synagogen. Zu
       Beginn der Evakuierungen hatte mancher, der schon in der Levetzowstrasse
       zum Abtransport sich hatte einfinden müssen, noch in letzter Stunde das
       Glück, von der Abwanderung zurückgestellt zu werden.
       
       ## Plötzlich abgeholt
       
       Wir nannten das „reklamiert'‘ werden. Es waren immer solche, die in irgend
       einem arischen Betrieb eine sehr dringende oder nützliche Arbeit leisteten.
       In diesem Falle hatte oft der Betriebsführer eine Eingabe bei der Gestapo
       gemacht und wegen der Dringlichkeit der Arbeit, die der Jude X. Y. zu
       leisten hatte, wurde häufig die Abwanderung zurückgestellt. Dann erhielt
       der Betreffende nach einiger Zeit von der Jüdischen Kultusvereinigung,
       mitunter auch noch von der Gestapo extra, die Mitteilung, dass er
       „vorläufig'‘ von der Abwanderung zurückgestellt sei.
       
       Leider musste dann immer ein anderer Jude für die „Vakanz'‘ eingesetzt
       werden, denn jeder Transport umfasste eine bestimmte, von der Gestapo
       festgesetzte Zahl, die nicht umgangen werden durfte. So kam es häufig vor,
       dass plötzlich Juden ohne vorherige Mitteilung zur Evakuierung abgeholt
       wurden. Mit Vorliebe suchte sich die Gestapo dazu solche Juden aus, die
       keine Arbeit leisteten oder noch verhältnismässig sehr vermögend waren.
       
       Die Wohnungen der „Abgewanderten'‘ wurden sofort nach dem Abtransport von
       der Gestapo versiegelt. Nach einiger Zeit wurden die Möbel und sonstigen in
       der Wohnung befindlichen Wertgegenstände auf Veranlassung „einer
       öffentlichen Behörde“ (so stand es immer in der Zeitung bei den zahlreichen
       Auktionsanzeigen) versteigert.
       
       Während in der ersten Zeit der „Abwanderungen'‘ Reklamierungen noch
       ziemlich häufig vorkamen, nützten diese aber in der letzten Zeit vor meiner
       Abreise auch nicht mehr viel. Die Reklamierungen wurden immer seltener,
       dafür die „Abwanderungen'‘ immer häufiger. Ja, zuletzt direkt katastrophal.
       Es verging fast kein Tag, an dem nicht ein lieber Verwandter oder Bekannter
       Berlin auf diese Weise verliess.
       
       ## Postkarten zum Abschied
       
       Zeit zum Abschiednehmen hatte niemand. Wer überhaupt noch in Berlin war,
       war ja nur da, weil er von früh bis spät arbeitete, oder so schwer krank
       war, dass er nicht transportfähig war. Da man sich persönlich nicht mehr
       verabschieden konnte, erhielt man nur, in der letzten Zeit fast täglich,
       eine Karte von einem lieben Freunde oder Verwandten, in der er mitteilte:
       „Nun ist es bei mir so weit – leben Sie wohl. Sie brauchen nicht zu
       antworten. lhre Nachricht, über die ich mich sonst sehr gefreut hätte, wird
       mich nicht mehr erreichen.'‘
       
       Oder man bekam eine Mitteilung: „Nun haben auch wir unsere Nummer bekommen.
       Wir werden wohl nicht so lange mehr hier sein. Leben Sie wohl, wir werden
       Sie nie vergessen.“ Dies war die Post, die wir fast täglich erhielten, und
       kam andere Post, dann war es immer irgend eine unangenehme Mitteilung
       seitens des Finanzamtes, des Devisenamtes, des Polizeireviers oder sonst
       einer Behörde.
       
       Alle Bestimmungen wurden gewöhnlich so getroffen, dass sie den Ariern
       möglichst verborgen bleiben sollten. So wurden die zum Abtransport
       bestimmten Juden vom Sammellager Levetzowstrasse gewöhnlich spät abends
       oder nachts zu einem ziemlich entfernt liegenden und nicht so sehr
       besuchten Bahnhof gebracht und von dort in aller Stille abtransportiert.
       Wie ich hörte, sollen sie z. B. in dem letzten, bitterkalten Winter 1942 in
       Viehwagen und Güterwagen nach Riga gebracht worden sein. Man hatte dabei
       nicht vergessen, den Juden noch von den Mänteln den Pelzbesatz
       abzuschneiden.
       
       Ich weiss, dass mir immer von solchen Leuten, die Näheres über die
       Evakuierungen wussten, der Rat gegeben wurde, bei der Deportation, die auch
       mir natürlich bevorstand (ich sollte schon zweimal nach Polen und bin immer
       wie durch ein Wunder gerettet worden), so wenig wie möglich mitzunehmen.
       
       Oft haben wir Juden, wenn wir noch mitunter in der Lage waren, einander
       sprechen zu können, gesagt: „Alles wollen wir schon gern ertragen, die
       schwere Arbeit und den Hunger, die Angst und den Schrecken, wenn die Post
       kommt, und alle sonstigen Leiden. Nur das eine möge aufhören: das
       Abgewandertwerden.“
       
       * Schreibweise im gesamten Text wie im Original
       
       26 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Blanka Alperowitz
       
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