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       # taz.de -- Türkei jetzt mit Ramschstatus: Gesundbeten hilft nicht
       
       > Mit der Herabstufung auf Ramschniveau bestätigt eine Ratingagentur, dass
       > es der Wirtschaft viel schlechter geht, als die Regierung behauptet.
       
   IMG Bild: Läuft doch wie geschmiert: Präsident Erdoğan posiert im Eurasiatunnel
       
       Istanbul taz | Mehmet ist für gewöhnlich ein ruhiger Typ. Doch auf die
       Frage, wie seine Geschäfte laufen, explodiert er förmlich,
       „grottenschlecht“ sei „noch eine freundliche Umschreibung“.
       
       Als selbstständiger Unternehmer installiert Mehmet Satellitenanlagen für
       Fernseher. „Die Leute haben kein Geld mehr“, sagt er. „Ich komme überall in
       Istanbul herum, die Arbeitslosigkeit ist viel, viel höher, als die
       offiziell angegebenen 11,5 Prozent. Die Lage ist so schlecht wie seit
       Jahren nicht mehr.“
       
       Weil Mehmet keinen Hehl daraus macht, dass er Präsident Recep Tayyip
       Erdoğans Politik für eine Katastrophe hält, könnte man seinen Blick auf die
       türkische Ökonomie für getrübt halten. Doch die Analysten der großen
       US-Ratingagenturen teilen ihn. Am Wochenende hat Fitch die Kreditwürdigkeit
       des Landes auf Ramschniveau herabgestuft, Standard & Poor’s droht mit einer
       noch schlechteren Bonitätsnote.
       
       Und auch Anhänger der Regierungspartei AKP beklagen inzwischen, dass sich
       die regierungsamtlichen Verlautbarungen nicht mit der Realität decken. Ein
       langjähriger AKP-Wähler der sein Geld mit einem Taxibetrieb verdient, sagt:
       „Ich glaube langsam, die betrügen uns.“
       
       Intern ist der Führungsriege um Erdoğan längst klar, dass der Abschwung ihr
       größtes Problem ist – auch für das anstehende Referendum über die neue
       Präsidialverfassung. Abdulkadir Selvi, Kolumnist bei Hürriyet und
       Vertrauter von Regierungschef Binali Yıldırım, schrieb, die Wahlstrategen
       der AKP für die Volksabstimmung sähen mögliche Terroranschläge und die
       schlecht laufende Wirtschaft als größte Gefahr.
       
       ## Patriotische Parolen wirken nicht
       
       Der Versuch, die Bevölkerung mit patriotischen Parolen zu gewinnen, die
       Lira zu unterstützen, ist gescheitert. Kaum jemand will seine Devisen in
       heimische Währung umtauschen. Selbst die jüngste Zinserhöhung der
       Zentralbank konnte den Währungsverfall nicht stoppen. Jetzt gibt die
       Regierung „temporäre“ Probleme zu. Ab Sommer soll laut Yıldırım aber alles
       wieder im Lot sein.
       
       Um die Konjunktur wieder anzuschieben, hat die Regierung einen
       Garantiefonds in Höhe von 60 Milliarden Euro aufgelegt. Er soll Banken
       unterstützen, falls Kredite ausfallen. Vizeministerpräsident Nurettin
       Canikli drängt diese, nun großzügig Darlehen zu vergeben. „Jedes
       Unternehmen, das auch nur noch das geringste Lebenszeichen von sich gibt,
       ist kreditwürdig“, sagte er.
       
       Wo die Probleme ganz offenkundig sind, will der Staat direkt als
       Kreditgeber auftreten. Vor wenigen Tagen kündigte Yıldırım ein Programm für
       den Osten und Südosten an. Dort liegt die Wirtschaft völlig darnieder. In
       insgesamt 23 Provinzen in den kurdischen Gebieten und entlang der
       armenischen und georgischen Grenze will der Staat Investoren direkt
       unterstützen: Wer sich traut, dort ein Geschäft aufzumachen, soll 70
       Prozent seiner Investitionssumme zinsfrei vom Staat bekommen. Außerdem will
       der Staat 30 Prozent seiner Stromrechnung übernehmen.
       
       Alican Ebedinoğlu, Vorsitzender der Handelskammer in Diyarbakır, bleibt
       skeptisch. „Wer soll hier ein Geschäft eröffnen“, fragt er, niemand habe
       Geld, etwas zu kaufen. „Letztes Jahr sind hier 10.000 Unternehmen
       pleitegegangen. Die Cafés sind voller Arbeitsloser.“
       
       ## Kredite weren täglich teurer
       
       Mit den größten Anteil am Wirtschaftswunder der vergangenen Jahre hatte die
       Bauindustrie. Noch drehen sich über Istanbul die Baukräne, doch viele
       Firmen stecken in Schwierigkeiten. Die Hausverkäufe gehen drastisch zurück,
       etliche der Wolkenkratzer werden mit Krediten auf Basis des US-Dollar
       gebaut, die nun täglich teurer werden.
       
       Makler im Viertel bestätigen, was sich auch in den Statistiken zeigt. „Der
       Wohnungsmarkt ist im Moment tot“, sagt ein Makler in Beyoglu, dem
       Istanbuler Viertel, in dem zuletzt am häufigsten auch Ausländer kauften. Es
       gebe praktisch keine Interessenten mehr. „Alle warten ab, wie die
       Entwicklung in der Türkei weitergeht. Im Moment kommt praktisch nur noch
       Fluchtgeld aus dem Irak und Syrien in den Immobilienmarkt.“
       
       Eine der wichtigsten türkischen Unternehmerinnen, die wie alle anderen
       nicht mit Namen in der Zeitung erscheinen will, erklärte, warum die
       türkische Ökonomie daniederliegt. „Meine amerikanischen und europäischen
       Kunden“, sagt sie, „wollen nicht mehr in die Türkei kommen“. Man könne die
       besten Produkte haben – „wenn das Image des Landes so am Boden ist wie bei
       der Türkei jetzt, findest du keine Kunden mehr“.
       
       31 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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