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       # taz.de -- Nato-Abwehrverbund in Litauen: Die Abschreckungsmaßnahme
       
       > Zur Prävention gegen Russland schickt die Bundeswehr Soldaten und
       > Kriegsgerät ins Baltikum. Die Wirkung der Maßnahme ist umstritten.
       
   IMG Bild: Bereit für das Baltikum: Ein Soldat des Panzergrenadierbataillon 122 schaut am im Dezember 2016 auf dem Truppenübungsplatz aus einer Luke eines Schützenpanzers
       
       Grafenwöhr taz | Der Bergepanzer muss warten. Das mächtige Fahrzeug –
       Modell „Büffel“, neun Meter lang, über fünfzig Tonnen schwer – steht am
       Rande der Laderampe, während nach und nach 42 Panzerwagen, Autos und
       Unimogs der Bundeswehr auf die Bahnanhänger auffahren. Mit seinem Kran,
       rechts von der Fahrerluke befestigt, kann der Panzer bis zu dreißig Tonnen
       Gewicht anheben. Das ist der Grund, warum er heute erst ganz am Ende
       verladen wird: Sollte zuvor eines der anderen Fahrzeuge beim Auffahren vom
       Anhänger fallen, muss der Büffel es aus dem Gleisbett heben.
       
       Es ist glatt auf den Anhängern, am Morgen fiel Eisregen. Und die
       Verladeaktion ist für die Soldaten am Gleis nicht alltäglich. „Eine
       Bahnverladung in dieser Größenordnung wird nicht mehr regelmäßig
       durchgeführt. Insofern ist es schon eine Herausforderung“, sagt der
       Oberleutnant, der die Fahrer an der Rampe einweist.
       
       Insgesamt 43 Militärfahrzeuge fertigen die Soldaten an diesem Dienstag in
       Grafenwöhr ab. Die meisten, darunter zwei Boxer-Transportwagen mit
       Stahlpanzerung und Maschinenkanone auf dem Dach, sind eigentlich als Teil
       des Panzergrenadierbataillons 122 in verschiedenen nordbayerischen
       Stützpunkten stationiert.
       
       Hier, in Grafenwöhr an der Verladerampe des US-Truppenübungsplatzes, werden
       sie nun auf Güterwagen festgezurrt. In den nächsten vier Tagen werden sie
       auf der Schiene in Richtung Nordosten fahren und über Polen nach Litauen
       gelangen. Das Ziel: Der Militärstützpunkt in Rukla, etwa 80 Kilometer
       nordwestlich von Vilnius.
       
       ## 190 Fahrzeuge, 450 Soldaten
       
       Bis Ende Februar werden 190 Fahrzeuge, darunter auch schwer bewaffnete
       Leopard-2-Kampfpanzer und Schützenpanzer vom Typ Marder, zusammen mit 450
       deutschen Soldaten nach Litauen verlegt. Dort treffen sie auf Truppen und
       Material aus Belgien, Luxemburg, den Niederlanden und Norwegen. Gemeinsam
       werden die insgesamt rund 1.000 Soldaten unter deutscher Führung zur
       „Nato-Battlegroup Lithuania“.
       
       Die Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten hatten auf ihrem
       Warschauer Gipfeltreffen im Juli 2016 beschlossen, den Verband
       einzurichten. Gleichzeitig bildet die Nato drei ähnliche Kampfgruppen in
       Estland, Lettland und Polen. Als „Abschreckungsmaßnahme“ gegen Russland und
       Reaktion auf die Ukrainekrise sollen sie laut dem Gipfelbeschluss
       „eindeutig Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit demonstrieren“.
       
       Tatsächlich gab es in der Geschichte der Nato noch nie einen vergleichbaren
       Truppenaufbau in Osteuropa. Parallel hat die US-Army unter eigenem Kommando
       schon Anfang Januar eine schwer bewaffnete Kampfbrigade mit rund 4.000
       Soldaten durch Deutschland nach Polen verlegt. Von dort wird die Einheit
       auf verschiedene osteuropäische Länder verteilt. Material für eine weitere
       Brigade lagern die Amerikaner in den Niederlanden ein. Auch das soll der
       Abschreckung Russlands dienen.
       
       Als Einsatz im eigentlichen Sinne gilt dies nicht. Offizielle
       Sprachregelung von Bundesregierung und Bundeswehr: Die deutschen Soldaten
       sollen in Litauen üben. „Nach Abschluss der Verlegung starten wir ab März
       Ausbildungen und Übungen mit den multinationalen Partnern und
       selbstverständlich auch mit den litauischen Kameraden“, sagt Oberstleutnant
       Lars Obst, stellvertretender Kommandeur des Bataillons.
       
       ## Mission: Überraschungsangriffe verlangsamen
       
       Was genau werden die Soldaten in Litauen trainieren? Einen Hinweis bieten
       die Vorbereitungen der Panzergrenadiere am Ende des vergangenen Jahres. Im
       Dezember übten sie in Grafenwöhr schon mal für die kommenden Monate, wie
       sie die Offensive eines Feindes durch gezielte Gegenangriffe verlangsamen
       können.
       
       Dieser Fokus kommt nicht von ungefähr. Die Rand Corporation, eine
       amerikanische Denkfabrik mit engen Verbindung zur US-Armee, spielte noch
       vor den Warschauer Nato-Beschlüssen verschiedene Szenarien für einen
       Angriff auf das Baltikum durch. Militärexperten legten eine Karte der
       Region auf einen Tisch und verschoben wie in einem Brettspiel verschiedene
       Armee-Einheiten darauf hin und her.
       
       In ihrem damaligen Szenario gingen die Wissenschaftler davon aus, dass
       Russland für einen Überraschungsangriff 27 Bataillone mit jeweils rund
       1.000 Soldaten zusammenziehen könnte – ordentlich ausgerüstet und
       ausgebildet. Die schwachen baltischen Armeen und ihre Verbündeten konnten
       sich demnach kurzfristig nur mit zwölf Bataillonen dagegen stemmen – leicht
       bewaffnet, ohne einen einzigen Kampfpanzer und auf eine schnelle
       Truppenverlegung nicht vorbereitet. Das Fazit der Experten vor exakt einem
       Jahr: Wenn die russische Regierung es will, können ihre Truppen innerhalb
       von sechzig Stunden vor Tallinn und Riga stehen.
       
       Als Gegenmaßnahme schlugen die Strategen dem Verteidigungsbündnis vor,
       sieben einsatzbereite Brigaden mit jeweils mehreren tausend Soldaten
       aufzustellen. Nach Auffassung der Denkfabrik könnten auch diese sieben
       Brigaden einen Überraschungsangriff zwar nicht zurückschlagen, aber
       zumindest für eine Weile aufhalten. Das Kalkül: Da den Russen höhere
       Verluste drohten, werde ein Angriff unwahrscheinlich.
       
       ## Eher ein symbolischer Beistand
       
       Tatsächlich verlegen die Bundeswehr und ihre Nato-Partner jetzt weit
       weniger Einheiten in Richtung Osten. Im Ernstfall könnten sie einem Angriff
       nicht viel entgegensetzen. Zumindest symbolisch soll die Truppenverlegung
       den Polen und Balten dennoch den westlichen Beistand versichern. Allein
       dieses Zeichen könnte Russland abschrecken.
       
       Das ist die eine Sichtweise. Es gibt aber auch eine andere. Demnach muss
       das Konfliktrisiko durch die Truppenverlegung nicht unbedingt sinken. Es
       könnte auch steigen.
       
       „Im Nebel der hybriden Kriegsführung könnten auf die Nato-Truppen Aufstände
       der russischsprachigen Minderheiten zukommen, unterstützt und angeleitet
       durch Russland“, schreibt Martin Zapfe, Politikwissenschaftler an der ETH
       Zürich, in einer Analyse. Ein hypothetisches Szenario, das nach den
       Erfahrungen aus der Ukrainekrise aber nicht vollkommen undenkbar ist.
       Reagiert eine Nato-Einheit unbesonnen auf so eine Konfrontation, könnte die
       Situation schnell eskalieren – und dem Kreml möglicherweise einen Vorwand
       dafür bieten, zum Schutz der Minderheiten einzugreifen.
       
       ## Ein Akt der Provokation
       
       Eine andere Befürchtung: Schon die Truppenverlagerung an sich könne in
       Moskau als Provokation empfunden werden und die Spannungen zwischen Ost und
       West verstärken. „Statt auf Panzer im Osten und Waffenexporte weltweit zu
       setzen, braucht unser Land eine Debatte über eine neue europäische
       Friedensordnung, die nicht ohne bessere deutsch-russische Beziehungen zu
       haben seit wird“, sagt Katja Kipping, Vorsitzende der Linkspartei. Ihr
       zufolge verstoßen die Maßnahmen zudem gegen die
       Nato-Russland-Grundlagenakte.
       
       In dem Abkommen aus den 1990er Jahren kündigte die Nato an, keine
       „zusätzlichen substantiellen Kampftruppen dauerhaft [zu] stationieren“. Aus
       Sicht der Bundesregierung verstößt die Truppenverlagerung allerdings gar
       nicht gegen dieses Prinzip: Mit Rücksicht auf das Abkommen werden die
       deutschen Soldaten genau genommen nicht dauerhaft in Litauen stationiert.
       Sie bleiben für sechs Monate – und werden dann im Rotationsprinzip durch
       neue Bundeswehrsoldaten ersetzt.
       
       Militärisch gesehen hat das auch noch einen ganz praktischen Vorteil. Die
       Panzergrenadiere aus Nordbayern ziehen in einem halben Jahr mit ihrem
       gesamten Material wieder aus Rukla ab. Als Ersatz dafür wird das nächste
       deutsche Bataillon seine Fahrzeuge auf Züge verladen und in Richtung
       Litauen schicken. Was das unfallfreie Auffahren auf Bahnanhänger angeht,
       sammelt die Bundeswehr also weiter Erfahrung.
       
       31 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Schulze
       
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