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       # taz.de -- Enge im Nahverkehr: Im Rhythmus der Masse
       
       > Wer in der S-Bahn unterwegs ist, darf Körperkontakt mit Fremden nicht
       > scheuen. Die Züge sind oft überfüllt. Langzüge soll in Zukunft Abhilfe
       > schaffen.
       
   IMG Bild: Oft überfüllt: Die S-Bahn im Hamburg
       
       HAMBURG taz | Später Nachmittag, Bahnhof Sternschanze. „Jo Digga, guck dir
       das an!“ Zwei schmächtige Jungs mit zerrissenen Jeans und übergroßen
       Rucksäcken steigen in die S31, der eine, ein Justin-Bieber-Verschnitt mit
       blondierten Haaren, hat den Blick unentwegt auf das Display seines
       Smartphones gerichtet. Die Bahn ist so gut wie leer, nur eine ältere Dame
       sitzt im Abteil neben mir, die Handtasche auf ihrem Schoß hält sie fest
       umklammert, während sie die Teenager mit scharfen Blicken taxiert.
       
       Inzwischen hat auch der zweite Junge sein Handy hervorgekramt, er hält es
       sich vors Gesicht, reißt Mund und Augen auf. „Geht es ihnen gut?“, krächzt
       die Oma quer durch den Zug. Die Jungs halten inne und lachen. „Snapchat“,
       sage ich und lächle entschuldigend. Nun, das war wenig hilfreich. Jetzt
       mustert die Oma mich von oben bis unten, verlässt schnell ihren Platz.
       
       Am Dammtorbahnhof steigen die Jungs aus, ein ganzer Schwung Menschen kommt
       herein. Obwohl nun alle Plätze besetzt sind, ist es stiller als zuvor.
       Niemand sagt ein Wort, nur ein stetes Husten und Schniefen ist zu hören.
       Alle starren vor sich hin – aus dem Fenster, auf die Füße, ganz egal,
       Hauptsache ist, der Blick trifft nicht den des Gegenübers. Wobei: Dieses
       Risiko ist ohnehin gering, denn jeder Dritte spielt hochkonzentriert mit
       dem Handy herum.
       
       Ein breiter Typ mit Glatze und Tribal-Tattoo am Hals schiebt mit zwei
       Fingern „Candy Crush“-Früchtchen hin und her, das stark geschminkte Mädchen
       neben mir, dessen Augenbrauen offenbar mit Edding aufgemalt wurden, scrollt
       durch die Facebook-Timeline. „Mama, warum sind da Zelte?“, fragt nun ein
       etwa Fünfjähriger in die Stille hinein und zeigt durchs Fenster auf die
       Lombardsbrücke, unter der Obdachlose schlafen. „Naja, Theodor, manche Leute
       wohnen in Häusern, so wie wir, andere wohnen eben lieber in Zelten!“ Als
       kurz darauf ein junger Mann mit den Worten „Entschuldigen Sie die Störung,
       ich bin obdachlos …“ einsteigt, verwickelt die Mutter den Sohn schnell in
       ein Gespräch.
       
       Nächste Station: Hauptbahnhof. Beim Anblick der Menschentraube, die sich
       dort auf dem Bahngleis versammelt hat, rücken alle instinktiv ein Stück
       zusammen, atmen noch einmal ganz tief durch. Denn jetzt wird es voll. Sehr
       voll. Mit stoischer Gelassenheit schieben sich die nächsten Fahrgäste durch
       die Türen. Die Blicke sind leer, in den Gesichtern liegt die Müdigkeit nach
       einem langen Arbeitstag.
       
       Ich stehe inzwischen, strategisch ungünstig, unter der Achselhöhle eines
       Mannes, der offenbar auch einen langen Tag hatte. Als wir kurz vor
       Hammerbrook auf voller Strecke anhalten, scheint das niemanden zu
       irritieren, die Stimmung ist entspannt. Oder resigniert? Denn man kennt das
       ja: Wer in der S-Bahn zwischen Harburg und Hauptbahnhof unterwegs ist, darf
       den Körperkontakt mit Fremden nicht scheuen.
       
       Besonders am Morgen ist die Bahn so voll, dass man oft nicht einsteigen
       kann – und endlich versteht man, warum man in Japan Schaffner braucht, die
       Menschen in den Zug pressen. Also bewegt man eben so wenig wie möglich,
       denkt einfach nur an das nahende Ende der Fahrt.
       
       Oder man hört zu – schließlich gerade auf diesem Streckenabschnitt sehr
       viele verschiedene Menschen unterwegs. „Staatsrecht ist ätzend, aber BGB
       lernen bockt echt“, sagt die Jura-Studentin hinter mir. ,,Bin aus Rumänien
       für Arbeit gekommen, aber auch nix besser hier als zu Hause“, sagt der Mann
       mit dem großen Wanderrucksack. Ein junger Somali zieht Fratzen für ein Baby
       im Kinderwagen, ein Bauarbeiter lässt eine Bierpulle aufploppen –
       Alkoholverbot hin oder her. Eine Frau mit Kopftuch fragt mich in
       gebrochenem Deutsch, ob das der Zug nach Harburg sei, in der Hand hält sie
       Behördenpapiere, an der anderen ein kleines Mädchen, das fasziniert und
       verängstigt zugleich umherblickt.
       
       Als die Bahn auf der Veddel hält, wird es plötzlich hektisch. „Maan, macht
       doch mal Platz da vorne! Hier wollen Leute aussteigen“, schreit ein Mann
       von hinten über die Köpfe derjenigen, die den Gang zur Tür versperren.
       „Also mei, unglaublich, wie unfreundlich die Leute hier sind“, kommentiert
       eine Bayerin mit dickem Koffer, den sie ihrem Vordermann noch ein Stück
       weiter in die Kniekehlen drückt. Für mich endet die Fahrt hier. Alle gehen
       weiter ihren Gang – im eingespielten Rhythmus der Masse.
       
       3 Feb 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Annika Lasarzik
       
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