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       # taz.de -- Arm im Alter: Die Sonne scheint für alle kostenlos
       
       > Wann fängt Armut an? Reichen 850 Euro für ein anständiges Leben? Über die
       > Bedeutung des Gefühls, eine Wahl zu haben.
       
   IMG Bild: Die Natur kostet nichts
       
       DasZahnkonto ist Gisa Muthgangs Erfindung. Vor längerer Zeit schon hat sie
       Geld für ihre Zahnbehandlungen angelegt. Jeden Monat zahlt sie 100 Euro
       ein. Manche Menschen sparen auf ein Auto, Muthgang spart auf neue
       Backenzähne. Zähne hauen ins Budget, wenn man nur 850 Euro im Monat hat.
       „Man muss umdenken“, sagt die ehemalige Erzieherin, die mit 60 Jahren
       vorzeitig in Rente ging, „es ist ein neuer Lebensabschnitt“.
       
       Muthgang empfängt zum Tee in ihrer kleinen Wohnung, zweieinhalb Zimmer mit
       Grünblick im Berliner Bezirk Charlottenburg. Nichts Überflüssiges steht
       herum, nur zwei Gitarren verraten, dass man sich in einem Haushalt mit
       Musikern befindet. Muthgang hat eine Zeit der kontrollierten Schrumpfung
       hinter sich.
       
       Sie stammt aus der Mittelschicht, verbrachte ihre Kindheit im
       Einfamilienhaus am Grunewald, in einer Gegend, in der viele Berliner leben,
       die mehr Geld haben als der Durchschnitt. Der Vater war Abteilungsleiter in
       einem großen Medienkonzern. Er verließ die Familie mit drei Kindern früh,
       heiratete ein zweites Mal und ist jetzt im hohen Alter ein teurer
       Pflegefall. „Mit einem Erbe kann ich nicht rechnen“, sagt Muthgang.
       
       Sie arbeitete als Erzieherin im Hort einer Ganztagsschule, Vollzeit, eine
       engagierte Pädagogin aus der linksalternativen Szene. Nach gesundheitlichen
       Krisen verminderte sie nach und nach ihre Arbeitszeit. Mit 60 ist sie raus,
       Burn-out. Sie lebt mit ihrem Lebenspartner zusammen, einem Musiker, der
       auch wenig hat. Die beiden führen getrennte Kassen. Ihren richtigen Namen
       will sie nicht in der Zeitung lesen.
       
       In zehn bis zwanzig Jahren könnte es viele Ältere geben, die so wie Gisa
       Muthgang mit wenig Geld auskommen müssen. Die Gefahr, arm zu werden, ist
       bei den über 65-jährigen Frauen und Männern laut Mikrozensus in den
       vergangenen Jahren gestiegen. Der Entwurf des 5. Armuts- und
       Reichtumsberichts der Bundesregierung nennt Risikofaktoren für Altersarmut:
       lange Arbeitslosigkeit, Selbstständigkeit ohne Vorsorge, eine lange
       Familienphase, Teilzeitarbeit, Scheidung, Krankheit.
       
       ## Auf neun Quadratmetern darf geraucht werden
       
       Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) will deshalb eine Art Mindestrente in
       einer Höhe zwischen 850 oder 900 Euro einführen für jene, die lange
       gearbeitet haben. Das wäre etwa so viel Geld, wie Gisa Muthgang im Monat
       hat. Wie lebt es sich mit einem Einkommen in dieser Höhe? Wann stellt sich
       das Gefühl von Armut ein?
       
       „Man bewegt sich eher in Bereichen, wo alles wenig oder nichts kostet“,
       sagt Muthgang, „aber arm will ich mich nicht fühlen.“
       
       Welche Werte sind wichtig, wenn das Einkommen sinkt? Gisa Muthgangs Antwort
       lautet: Wahlfreiheit und Selbstbestimmung, das Gefühl, trotz
       eingeschränkter finanzieller Möglichkeiten die Kontrolle über das eigene
       Leben zu behalten.
       
       „Ich habe meine finanzielle Situation lange kommen sehen“, sagt die
       schlanke Sechzigerin mit den kurzen blonden Haaren und den großen Augen,
       „wir haben uns drauf vorbereitet“. Mit den Mietkosten fängt das
       kontrollierte Schrumpfen an. Das kinderlose Paar leistete sich vor Jahren
       noch eine Wohnung mit 100 Quadratmetern im Dachgeschoss. Die Freunde
       bewunderten die großzügigen Zimmer, die tolle Aussicht, den Wintergarten.
       Doch als Muthgang klar wurde, dass ihre Kraft nicht reichen wird bis zum
       gesetzlichen Rentenbeginn mit 66 Jahren, entschloss sich das Paar zu einer
       Verkleinerung.
       
       56 Quadratmeter groß ist ihre Zweieinhalbzimmerwohnung mit Balkon und Blick
       auf einen Wald. Vor dem Umzug haben sie viele Bücher und Klamotten
       verschenkt und verkauft. „Man wirft auch Ballast ab“, sagt Muthgang. Sie
       hört sich für einen Moment an wie eine der Minimalisten, die es als
       Lebensstil begreifen, nicht zu viel zu besitzen. Muthgang setzt sich ihre
       Maßstäbe selbst. Sie versucht es zumindest.
       
       Durch den Umzug sparte das Paar 600 Euro Miete. Muthgang und ihr
       Lebenspartner zahlen jetzt zusammen 600 Euro Warmmiete. Sein Zimmer ist
       neun Quadratmeter groß. „Wer will, darf darin rauchen“, sagt sie.
       
       ## Die verschämte Armut
       
       Die Freunde, die sich anfangs noch besorgt erkundigen, ob die Zweisamkeit
       infolge der neuen räumlichen Enge keinen Schaden nehme, sind verstummt. Von
       Neumietern der gleichen Wohnungen im Komplex fordert der Eigentümer jetzt
       eine um 400 Euro höhere Miete. Ein Nachbar mit dem gleichen Wohnungsschnitt
       habe sein 9-Quadrameter-Zimmer jahrelang untervermietet, erzählt sie. „Das
       geht ja auch.“ Sie kann sich Maßstäbe nicht nur selbst setzen, sondern sie
       auch ändern, wenn es nötig ist.
       
       Der Gedanke, dass ihr Partner nicht mehr da sein könnte, beunruhigt sie hin
       und wieder. „Allein könnte ich mir die Wohnung nicht leisten“, sagt
       Muthgang. Eine kleinere bezahlbare Wohnung wäre in dieser Lage kaum zu
       finden. Viele Ältere leben in einer Art verschämten Armut, um in ihren
       Wohnungen bleiben zu können, nachdem der Partner gestorben ist. Bei
       Alleinlebenden im Rentenalter liegt die Mietbelastung in Westdeutschland
       durchschnittlich bei 44 Prozent des Einkommens, zeigt der neue
       Armutsbericht. Das ist ein Rekord im Vergleich unter allen Altersgruppen.
       
       Bisher kann Muthgang ihre Wohnkosten bezahlen. Von 850 Euro Rente gehen 300
       Euro für ihren Mietanteil ab. Mit 100 Euro schlagen die Energiekosten,
       Fernsehen, Telefon, Handy, Internet, zu Buche. 70 Euro kostet die
       Monatskarte für Bus und Bahn. Bleiben noch 380 Euro für Essen, Getränke,
       zum Ausgehen, für Freizeitkurse, Klamotten, Schuhe, Drogeriewaren,
       Medikamente, Zeitungen, Friseur, homöopathische Präparate, Zugfahrten zu
       den alten, geschiedenen Eltern. Und fürs Zahnkonto.
       
       Wer sich die Posten vorrechnen lässt, versteht, warum man bei 850 Euro
       Rente durchaus von Armut reden könnte. Und warum Muthgang erwägt, auf
       Zahnimplantate künftig zu verzichten und das fürs Zahnkonto vorgesehene
       Geld lieber anderweitig zu verwenden. Mit ihrer kleinen Rente kann sie
       einen Antrag als „Härtefall“ bei der Kasse stellen. Die Kassen zahlen dann
       eine Mindestversorgung mit Zahnersatz; das sind aber nur Teilprothesen,
       keine Implantate. Sie könnte sich natürlich auch die Monatskarte für den
       Nahverkehr sparen, schließlich fährt sie viel Fahrrad. Aber was ist im
       Winter und mit den weiten Strecken?
       
       ## Sie schlich um den Seniorentreff
       
       „Man bewegt sich in einer Sphäre des Niedrigkonsums“, sagt Gisa Muthgang.
       Sie will nicht in Selbstmitleid verfallen, das ist ihr wichtig.
       „Niedrigkonsum“ klingt mehr nach Öko, nach selbst gewähltem Lebensstil und
       nicht nach Absturz und Ausschluss. Dass sie nahe am Wald wohne, sei ihr
       „großes Glück“, sagt sie. Spaziergänge im Sonnenuntergang sind die Rettung
       für Tausende von Altersarmen, denn die Natur kostet nichts. Ihr anderes
       Hobby ist nicht teuer: Muthgang spielt und singt seit Jahren in einer Band.
       Da fallen nur 18 Euro im Monat für den Übungsraum an.
       
       Gisa Muthgang trägt gerne Naturfaser, kocht viel Bio und legt Wert darauf,
       auch beim Konsum wählerisch zu sein. In Secondhandklamotten würde sie sich
       unwohl fühlen, vom Billigangebot der 1-Euro-Shops hält sie wenig. Das
       Bioregal bei Aldi allerdings schätze sie inzwischen. Und sie findet, es ist
       ein Politikum, „dass die großen Biomärkte meist viel zu teuer sind für
       Leute mit geringem Einkommen“. Dann ist da die Seniorenfreizeitstätte.
       Okay, da musste sie sich überwinden.
       
       „Es ist hilfreich, ein paar Vorurteile abzulegen“, sagt sie.
       
       Muthgang schlich ein paarmal am Seniorentreff vorbei, dann wagte sie sich
       hinein. Der Feldenkrais-Kurs, eine Art Bewegungstherapie, kostet dort nur
       20 Euro im Monat. Die Truppe entpuppte sich als muntere
       Überlebensgemeinschaft. Man redet nicht ausführlich über die eigenen
       Krankheiten, aber „wir tauschen Tipps aus über Ärzte, die
       naturheilkundliche Behandlungen ohne Mehrkosten anbieten“, erzählt
       Muthgang. Der Älteste im Kurs ist 80 Jahre alt, kommt aber noch runter auf
       die Schaffellmatte.
       
       Wenn man Muthgang beim Chai-Tee zuhört, erinnert man sich an die sparsame
       Lebensweise der Kriegsgenerationen, die Meisterinnen darin waren,
       Gemeinschaft herzustellen, ohne dass es viel kostete. Wandern, Singen,
       Hausmusik, Vereine, Besuche, Kaffeeklatsch – die Rentnerinnenkultur der
       60er Jahre war konsumfern. Rechnet man die Rente einer Angestelltenwitwe
       aus den 60er Jahren um und zieht die Miete ab, dann verfügten Rentnerinnen
       damals über eine Kaufkraft von nur 340 Euro. Diese Subkultur der Damen in
       ihren beigen Anoraks, breiten Schuhen und dicken Brillen entwickelte sich
       für die Nachkommen zum Inbegriff der Spießigkeit. Aber vielleicht hat man
       da etwas übersehen.
       
       ## Reiche Erben, verarmte Künstler
       
       Denn die Spartricks dieser Rentnergenerationen und der konsumferne
       Lebensstil vieler Studentenmilieus tauchen vielleicht in neuen Varianten
       bei den konsumschwachen Älteren wieder auf.
       
       Muthgang verfügt über eine weitere Voraussetzung, die beim Leben in der
       Sparsamkeit hilft: einen sozial gemischten Freundeskreis. Sie kennt etliche
       alte Künstler, die ärmer sind als sie. Schauspieler und Musiker sind es,
       die früher als Freiberufler nicht viel verdienten und jetzt im Alter darum
       kämpfen, nicht beim Grundsicherungsamt anklopfen und auf den Anträgen den
       Wert ihrer Musikinstrumente oder einer Datsche im Berliner Umland als
       verwertbaren Besitz angeben zu müssen.
       
       „Die andern in der Band hielten mich immer für reich“, erzählt Muthgang,
       „die sagten, du arbeitest im öffentlichen Dienst, das ist doch ein gut
       bezahlter, sicherer Job. Die hatten völlig falsche Vorstellungen von den
       Gehältern.“
       
       Aber sie trifft sich auch viel mit einer Freundin, die früher einmal
       Lehrerin war und eine gute Pension bezieht. Diese Freundin ist seit Kurzem
       Erbin und sucht sich jetzt die Ayurveda-Hotels in Sri Lanka sehr sorgfältig
       aus. Sie hat ihre Freundin Gisa eingeladen zur Wellnesswoche ins Biohotel
       nach Österreich, sie wolle alles zahlen. Muthgang lehnte ab. „Ich will mich
       innerlich unabhängig fühlen können und zu nichts verpflichten“, sagt sie.
       
       Die reichen ErbInnen und die verarmten Künstler – Muthgang steht
       gewissermaßen in der Mitte, und das scheint ein Trost zu sein.
       
       Männer im Übrigen reden höchst ungern über ihre Armut. Das stellt auch
       fest, wer männliche Interviewpartner zu dem Thema sucht. Solange es privat
       bleibt, erzählen Männer ähnliche Geschichten wie Gisa Muthgang, aber sie
       würden lieber aus dem Fenster springen, als sich in einem Zeitungsartikel
       als Altersarme zitiert zu sehen. Frauen sind da eventuell pragmatischer und
       verknüpfen ihr Selbstwertgefühl nicht so stark mit ihrer finanziellen
       Situation.
       
       ## Früher half sie Armen
       
       Auch Muthgang kämpft hin und wieder mit Gefühlen des Verzichts. Nicht lange
       und weit in Urlaub zu fahren, das ließe sich aushalten. Auch kein Auto zu
       haben sei kein Problem. „Aber die homöopathischen Behandlungen, die fehlen
       mir“, sagt sie. Für die Konsultationen bei der Homöopathin mangelt es an
       Geld. Auch die Feldenkrais-Einzelbehandlungen wegen ihrer Rückenschmerzen
       kann sie nicht mehr besuchen. Ihre langjährige Krankengymnastin rechnet
       inzwischen nur noch privat ab – für Muthgang ist das nicht bezahlbar.
       
       Manche mögen das für Luxussorgen halten, so wie es Menschen gibt, die nicht
       verstehen, wieso sich Hartz-IV-Empfänger auch mal in ein Café setzen wollen
       oder Niedrigverdiener rauchen. Aber das Gefühl von Wahlfreiheit und
       Selbstbestimmung beinhaltet eben genau das, sich wenigstens ein oder zwei
       Dinge zu leisten, die nicht nur dem bloßen Überleben dienen.
       
       Muthgang würde zwei von neun Kriterien „materieller Entbehrung“ erfüllen,
       die aus der europäischen Sozialberichterstattung stammen: Sie kann sich
       kein Auto und keinen Urlaub leisten. Das ist noch relativ komfortabel. Im
       Vergleich zu Sabine Buchholz.
       
       Wer Buchholz in ihrer Einzimmerwohnung in Berlin-Wedding besucht, begreift,
       was es heißt, wirklich eingeschränkt zu sein durch die Armut und um einen
       Rest von Wahlfreiheit, um Selbstbestimmung hart kämpfen zu müssen. Der
       Unterschied lässt sich beziffern: „200 Euro im Monat mehr, das wäre eine
       andere Welt“, sagt die 64-Jährige, die mit ihrer Katze in ihrem kleinen
       Apartment lebt.
       
       Buchholz bezieht Hartz IV. Seit einer Krebserkrankung kann sie nicht mehr
       arbeiten. Bald geht sie in Rente, eine sehr kleine Rente mit aufstockender
       Grundsicherung. Sie wird also ein Einkommen in Höhe von Hartz IV bekommen
       und gehört dann zu den offiziell Altersarmen.
       
       ## 600 Euro zum Leben
       
       Auch Buchholz, die in Wirklichkeit anders heißt, stammt aus der
       Mittelschicht, einem Beamtenhaushalt in Hessen. Sie hat Sozialpädagogik
       studiert. Auch sie wird nichts erben, und es würde ihr auch nichts nützen:
       Jedes zufließende Vermögen muss verbraucht werden, bevor es Grundsicherung
       gibt. Buchholz hat als Sozialpädagogin in der Obdachlosenhilfe gearbeitet,
       ganz früher mal. Sie war immer kränklich. „Ich dachte damals: Es kann
       leicht passieren. und du stehst selbst auf der anderen Seite“, erzählt sie.
       
       Sie wurde arbeitslos, es folgten ABM-Stellen, Kurse, ein paar Anläufe,
       einen neuen Job zu finden, Beschäftigungsmaßnahmen, bei denen nichts
       eingezahlt wird in die Rente. Sie trat eine Stelle über den
       Bundesfreiwilligendienst an, im Büro einer Wohlfahrtseinrichtung. Sie bekam
       200 Euro an Aufwandsentschädigung, obendrauf auf den Regelsatz von Hartz
       IV. 200 Euro mehr bedeuten 600 Euro im Monat zum Leben plus Miete. Es
       entspricht einem Arbeitseinkommen von mehr als 900 Euro.
       
       „Mit dem Geld von der Stelle beim Bundesfreiwilligendienst konnte man
       einigermaßen leben“, sagt Buchholz, „ich konnte auch mal einen Kaffee
       trinken gehen, mir was Neues kaufen.“ Doch es war eben kein richtiger Job.
       Die Stelle war auf neun Monate befristet. Und dann kam der Krebs. Und dann
       wieder Hartz IV. Sicher, während ihrer Studentenzeit hat sie auch nicht
       mehr gehabt, „aber es ist ein Riesenunterschied, wenn du weißt, diese
       Armut, die bleibt für immer“.
       
       409 Euro Regelsatz hat Buchholz im Monat, davon gehen Kosten ab für
       Haushaltsenergie, Telefon, Handy, Internet, die Brille, das Monatsticket,
       Katzenfutter, Essen, Klamotten, Drogeriewaren. Auch Buchholz kocht lieber
       Bio, erst recht nach dem Krebs. Die Waschmaschine ging neulich kaputt.
       Buchholz kaufte eine gebrauchte vom Regelsatz, für 50 Euro. Das Ding
       funktioniert nicht richtig, ständig fließt Wasser aus.
       
       ## Jeden Monat im Dispo
       
       Dabei hat sie nicht mal den vollen Regelsatz zur Verfügung. 20 Euro muss
       sie monatlich an das Jobcenter zurückzahlen, das hängt mit dem Krankengeld
       von der Stelle beim Bundesfreiwilligendienst zusammen, das sie
       zwischenzeitlich bezog. Sie wusste nicht, dass sie das nicht darf:
       Krankengeld beziehen plus Hartz IV. Das Jobcenter fordert nun einige
       hundert Euro zurück, häppchenweise. Und dann ist da noch der Dispo. Viele
       Hartz-IV-Empfänger überziehen den Dispo und zahlen lebenslang allmonatlich
       Zinsen an die Bank, ohne den Kredit jemals tilgen zu können. Buchholz zahlt
       25 Euro im Monat.
       
       Auch Sabine Buchholz kennt die Subkultur des Niedrigkonsums, die
       1-Euro-Shops, Billigklamottenläden, Flohmärkte. Sie schätzt öffentliche
       Räume, in denen man sich bewegen kann, „ohne Geld bezahlen zu müssen“,
       erzählt sie. Der Besuch irgendwelcher Shoppingmalls, wo der Latte drei Euro
       fünfzig kostet, kommt für sie nicht infrage. Parks ohne Eintritt,
       Nachbarschaftszentren, Stadtteilbibliotheken, Flohmärkte – die sind
       überlebenswichtig für die Menschen, die im Alter arm sind.
       
       Sabine Buchholz wohnt in der Nähe eines Parks, und wenn die Stimmung und
       das Wetter gut sind, picknickt sie auf dem Rasen. So wie die migrantischen
       Familien, die am Wochenende kommen. Zeitungen liest sie gratis in der
       Stadtteilbibliothek, und sie geht gern auf Flohmärkte und in
       Secondhandläden.
       
       Eine gewisse Wahlfreiheit hat sich Buchholz bewahrt. Die Läden von KiK zum
       Beispiel würde sie nicht betreten, wegen der Arbeitsbedingungen der
       Menschen, die die Kleidung für den Discounter herstellen. Sie besitzt ein
       iPad samt Vertrag, eine langjährige Freundin hat es ihr geschenkt, als
       Buchholz ins Krankenhaus musste zur Krebsoperation. Das mit dem Schenken
       „ist kein großes Thema zwischen uns“, sagt sie. Wer mehr hat, gibt ein
       bisschen was ab.
       
       ## Die Tafel wird normal
       
       Sie hat ebenfalls manche Vorurteile abgelegt. „Bei der Tafel gibt es auch
       nette Momente“, sagt sie, „da herrscht keine Atmosphäre von Absturz. Nur
       die Vordrängler, die nerven.“ Dienstags geht sie zur Ausgabestelle für
       Lebensmittel in einer Kirche. Man muss sich als Empfänger von
       Grundsicherung registrieren lassen und bekommt für einen Euro wöchentlich
       von Supermärkten gespendetes Gemüse, Obst und Brot.
       
       Eigentlich spart man dadurch nicht viel Geld, nur so um die 30 Euro im
       Monat, sagt Sabine Buchholz. Wenn sie ehrlich sei, gehe sie zur Tafel auch
       wegen der Abwechslung, wegen der Ansprache. Die Krebserkrankung raubt viel
       Kraft, oft kommt sie kaum noch aus dem Haus. Doch bei der Tafel trifft sie
       auf freundliche Freiwillige, meist Frauen, die Zucchini, Kohl und Brot
       ausgeben. Als Buchholz nach der Chemotherapie mit einem Kahlkopf
       auftauchte, waren einige Freiwillige besonders nett zu ihr. Menschen in
       Grenzsituationen ist man bei der Tafel gewöhnt.
       
       Dass normale Leute kommen, ist ihr wichtig. Viele Jüngere, Alleinerziehende
       sind dort. Eine alte Dame mit Rollator hat sie schon öfter gesehen, die
       grüßt immer freundlich. Auch ein Mann in orange Kleidung, vielleicht ein
       Buddhist, holt sich bei der Tafel Gemüse und Obst ab.
       
       ## Dann kauft sie eine Hollywoodschaukel
       
       Sabine Buchholz kann ihre früheren Klienten jetzt gut verstehen, die von
       damals, als sie selbst als Sozialpädagogin in einer Suppenküche arbeitete.
       Wie rasend einen das macht, nichts kaufen zu können. „Und dann kamen die
       Leute plötzlich mit einem brandneuen Handy an und hatten schon ihr Geld für
       den halben Monat verbraten“, erzählt sie. „Jetzt kann ich das nachfühlen.
       Manchmal will man eben auch ein schickes Handy oder Markenturnschuhe, man
       will dazugehören. Das macht einen verrückt.“
       
       Ihr verrücktester Kauf war eine Hollywoodschaukel, ein Sonderangebot beim
       Discounter. „Es war plötzlich so eine Fantasie von Geborgenheit und Urlaub,
       als ich mir vorstellte, wie das Ding in meiner Wohnung steht und ich drin
       liege und schaukle“, erzählt Buchholz. Mit einer Freundin baute sie die
       Hollywoodschaukel in ihrer Einzimmerwohnung auf. Sie war sperriger als
       erwartet.
       
       Man kam nicht mehr ans Bett und konnte auch nicht mehr bequem am Esstisch
       sitzen. Und auch nicht richtig doll schaukeln. Nach einer Woche bauten sie
       die Schaukel wieder ab. Es fanden sich Käufer über eBay. Sie holten die
       zerlegte Schaukel auf dem Fahrrad ab. „Die sahen auch irgendwie arm aus“,
       sagt Sabine Buchholz. Es war ein älteres Paar.
       
       12 Feb 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Dribbusch
       
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       Auch der Mindestlohn ist kein Gegenmittel. Alleinerziehende und
       Rentnerinnen sind von Armut besonders betroffen.
       
   DIR Stendal-Stadtsee, eine Ortserkundung (3): Die Enge der Großsiedlung
       
       Armut schränkt ein. Trotzdem gibt es in Stendal-Stadtsee Leute, die ihre
       Spielräume testen: Sarah will weg, Deman Arbeit und Herr Jany einen
       Seniorenclub.
       
   DIR Stendal-Stadtsee. Eine Ortserkundung (2): Alles auf Stillstand
       
       Brina hatte als Kind schon keine Träume. Nicki wollte Popstar werden.
       Daraus wurde nichts. Wie es ist, wenn die Jungen das Leben der Eltern
       fortsetzen.
       
   DIR Klagen gegen das Jobcenter: Im Kampf mit der Willkür-Behörde
       
       Fast 40 Prozent der Klagen gegen Hartz-IV-Sanktionen sind erfolgreich.
       Doch zu viele Menschen haben keine Chance, sich zu wehren.
       
   DIR Verbraucherschützer zu Konsum & Angst: „Konsum ist etwas Grundlegendes“
       
       Viele Menschen fühlen sich zunehmend ohnmächtig, sagt der
       Verbraucherschützer Klaus Müller. Konsum- und Wahlverhalten haben dabei
       viel miteinander zu tun.
       
   DIR Wege aus der Armut: „Bildung ist kein Wundermittel“
       
       Der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge über Bremens
       Handlungsspielräume im Kampf gegen Armut
       
   DIR Debatte Rentenreform: Gärtnern statt Wellnesshotel
       
       Gegen die Altersarmut hilft nur eine Solidarrente. Dafür ist eine
       Umverteilung von reichen zu armen Senioren nötig, nicht von Jung zu Alt.
       
   DIR Altersarmut in Deutschland: Wandern und kochen
       
       Sozialministerin Andrea Nahles arbeitet an einem neuen Konzept zur
       Alterssicherung. Wie ist es um die Renten bestellt? Fünf Fragen und
       Antworten.
       
   DIR Kommentar Rentengipfel der Koalition: Abschied vom Generationenvertrag
       
       Das bestehende Rentensystem wird immer absurder. Die Lösung für die
       Altersfrage muss außerhalb eines „Generationenvertrags“ liegen.
       
   DIR Pläne zur Rentenreform: Basteln an der Zukunft
       
       Das Rentenniveau wird in Deutschland weiter sinken. Von einem Konzept
       dagegen ist die Große Koalition nach wie vor weit entfernt.