# taz.de -- Ermittlungen am Klinikum-Ost in Bremen: Suizid statt Heilung
> Eine junge Frau bringt sich um, kurz nachdem sie aus dem Krankenhaus
> entlassen wird. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft wieder
IMG Bild: Vielleicht wäre Melissa Beck noch am Leben, hätte sie dieses Medikament nicht nehmen müssen
Bremen taz | Als Melissa Beck sich erhängt, ist sie gerade ganz frisch aus
dem Klinikum Bremen-Ost (KBO) entlassen. Ob das eine fahrlässige Tötung
war, muss jetzt die Staatsanwaltschaft ermitteln.
Wieder ermitteln, muss man sagen – denn sie hat das Verfahren gegen drei
ÄrztInnen des KBO schon mal eingestellt. Weil „kein schuldhaftes Verhalten“
zu erkennen sei, wie es hieß. Dabei liegt der Verdacht nahe, dass sie durch
gleich mehrere Behandlungsfehler den Suizid quasi herausgefordert haben.
Oder, wie die Mutter sagt: „Genauso gut hätte man meiner Tochter einen
geladenen und entsicherten Revolver in die Hand drücken können.“
Claudia Beck hat nun ein Klageerzwingungsverfahren vor dem
Oberlandesgericht gewonnen. So etwas kommt extrem selten vor, zumal in
Bremen. Gestern debattierte auch die Gesundheitsdeputation über den Fall.
Und es soll noch weitere fragwürdige Fälle gegeben haben.
Rückblende: Im Juli 2014 wird Melissa Beck als „Notfall“ ins KBO
aufgenommen: Sie sei „lebensüberdrüssig“, steht auf der Einweisung für
Station 5c, wo sie zu diesem Zeitpunkt gar keine ÄrztIn haben. Eine
Psychologin ohne medizinische Ausbildung nimmt statt dessen die Rolle der
Behandlerin ein.
Melissa Beck ist 20, Studienanfängerin in Gießen – und ein „totaler
Sonnenschein“, wie ihre Mutter sagt. In der Psychiatrie war sie vorher nie.
Aber ihr Vater: Er ist manisch-depressiv, hat also eine bipolare Störung,
wie die Psychiater sagen. Im KBO wussten sie das. Dass Melissa Beck auch
manisch-depressiv war, ist ein naheliegender Gedanke, den schon die
Fachärztin äußert, die Beck einweist. Immer wieder zeigt sie deutliche
Symptome einer bipolaren Störung. Doch im KBO kommt man am Ende zu einer
ganz anderen Diagnose. Das wird fatale Folgen haben.
Als Melissa Beck am 8. August 2014 aus der Klinik entlassen wird, werden
ihr „suizidale Ideen“ bescheinigt. Für „Eigen- oder Fremdgefährdung“ gebe
es aber „keinen Anhaltspunkt“, hat die Psychotherapeutin in Ausbildung Anna
B. in den Arztbrief geschrieben. Wenige Stunden später ist Melissa Beck
tot.
Keiner der Ärzte hat dieses Papier unterschrieben. Hinweise darauf, dass
einer von ihnen vor der Entlassung noch mit Melissa Beck gesprochen hat,
„finden sich nicht“, sagt der Anwalt Hans-Berndt Ziegler, der Claudia Beck
vertritt. „Dazu waren die Behandler jedoch verpflichtet.“ Die
Behandlungsunterlagen des KBO hält er für „offensichtlich manipuliert“.
Gut eine Woche vor ihrer Entlassung nimmt die Patientin, zunächst gegen
ihren Willen, das antriebssteigernde Medikament „Zoloft“, das Sertralin
enthält. Damit sollen, so erklärt der Hersteller Pfizer schwere
Depressionen behandelt werden – engmaschig betreut. „Vorsicht geboten“ sei
indes bei PatientInnen mit einer bipolaren Störung, weil Sertralin die
Stimmungsschwankungen verstärken kann.
Zudem erhöht das Medikament laut Hersteller das Suizid-Risiko, bei jungen
Menschen häufiger als bei älteren. „Bei aktivierenden Mitteln kann es dazu
kommen, dass die Leute einen Aggressivitätsschub bekommen, der sie dazu
bringt, die Selbsttötungsgedanken auch in die Tat umzusetzen“, sagt der
Pharmakologe Gerd Glaeske von der Uni Bremen. Zur Heilung werden sie
dennoch eingesetzt. In den USA wird indes davor gewarnt, Sertralin auch
unter-25-Jährigen zu geben.
In den ersten drei Wochen ihres Notfall-Aufenthaltes wird Melissa Beck vor
allem mit Sport, Entspannung und Gesprächen therapiert. „Die Ärzte haben
überhaupt nicht mitgekriegt, wie es um Melissa stand“, wird ihre
Bettnachbarin später sagen. Medikamente bekommt sie erst, als der baldige
Entlassungstermin schon feststeht. „Dabei war Sertralin bei meiner Tochter
doppelt kontraindiziert“, sagt Claudia Beck, die selbst Psychologin ist.
In der Klinik sind sie da anderer Meinung: „Die Diagnose einer Depression“
sei von den ÄrztInnen „einhellig“ gestellt worden, „zutreffend und auch
nachträglich nicht in Frage zu stellen“, schreibt der Verteidiger von
Dominik D., leitendem Oberarzt im KBO. Auch der Vorwurf, das Suizidrisiko
der Patientin sei unterschätzt worden, „entbehrt jeder Grundlage“, so der
Anwalt weiter. Eines Fehlers ist sich D. nicht bewusst: Er habe sich in
diagnostischer und therapeutischer Hinsicht nichts vorzuwerfen, schreibt
sein Verteidiger, auch wenn ihn die „Nachricht vom Freitod sehr getroffen
hat“. Schon von einem Freitod zu sprechen, sei „absurd“, sagt Claudia Beck.
Gestützt wird die Sicht des KBO durch ein Gutachten, das im Namen des
Wilhemshavener Psychiatrie-Professors Here Folkerts verfasst wurde. Es
kommt zu dem Schluss, dass Melissa Beck eine „mittelgradig ausgeprägte
Depression“ hatte. Hinweise auf eine bipolare Störung „ergeben sich für
mich nicht“, schreibt der Gutachter. Sertralin hätte Beck dann aber laut
Pfizer gar nicht bekommen dürfen: Es ist nur für schwere Depressionen
zugelassen.
Dennoch resümiert das Gutachten, dass es zwar „einzelne Kritikpunkte“ an
der Behandlung von Melissa Beck gebe, „schuldhaftes Verhalten der Ärzte
aber „nicht zu erkennen“ sei. Wer das Gutachten geschrieben hat, ist
unklar. Folkerts selbst nicht, nur soviel steht fest. Nachdem die
Staatsanwaltschaft es gelesen hat, stellte sie das Verfahren gegen die
Ärzte ein. Zu unrecht, wie jetzt das Oberlandesgericht entschied. Anwalt
Ziegler hält die Einschätzung des Gutachters für „geradezu absurd“.
8 Feb 2017
## AUTOREN
DIR Jan Zier
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