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       # taz.de -- Beschreibung sexualisierter Gewalt: Du Opfer!
       
       > Der Begriff stellt Menschen als wehrlos dar, gilt sogar als Beleidigung.
       > „Erlebende“ dagegen ist aktiv und ändert die Perspektive.
       
   IMG Bild: „Erlebende“ sind nicht automatisch wehrlos
       
       Die Rede ist natürlich von dem Wort mit dem großen O. O wie: „Oh mein Gott,
       ab jetzt muss ich auf Zehenspitzen um dich herumschleichen.“ O wie: Opfer.
       Denn „Opfer“ ist keineswegs ein wertfreier Begriff, sondern bringt eine
       ganze Busladung von Vorstellungen mit. Wie die, dass Opfer wehrlos, passiv
       und ausgeliefert sind – und zwar komplett. Bloß sind Menschen, denen etwas
       angetan wurde, ja immer noch sie selbst. Vielleicht haben sie sich in der
       Situation ausgeliefert gefühlt, vielleicht haben sie sich auch
       erfolgreich gewehrt, vielleicht … Doch macht ein Begriff wie Opfer alle
       gleichsam zu … Opfern eben.
       
       Wenn mir jemand erzählt, dass er oder sie einmal einen Autounfall gehabt
       hat, wird sich meine Wahrnehmung dieser Person wahrscheinlich kaum
       verändern. Genau das passiert jedoch, wenn wir „Autounfall“ durch
       „Vergewaltigung“ ersetzen. Das hat Vorteile: dass wir vorsichtig sind, dass
       wir das Geschehen ernst nehmen. Und Nachteile: dass wir ausschließlich
       vorsichtig sind, egal, was sich die Person von uns wünscht, dass wir das
       Geschehen ernster nehmen als alles andere im Leben dieser Person oder dass
       wir die Person eben nicht ernst nehmen, weil wir eine sehr genaue
       Vorstellung davon haben, wie und wer Opfer sind und wie sie sich zu
       verhalten haben.
       
       Indem wir Menschen als Opfer bezeichnen, stecken wir sie in eine Schublade
       und werfen den Schlüssel weg. Egal, was wir eigentlich meinen. Sprache mag
       zwar veränderlich sein, doch ist sie nicht beliebig. Natürlich können wir
       uns morgen entscheiden, „Kaffee“ nur noch „Ohrfeige“ zu nennen, doch
       sollten wir dann vorsichtig sein, wenn wir jemanden zu einem Kaffee
       einladen wollen.
       
       ## Aus dem Bereich des Sakralen
       
       Das Wort „Opfer“ wurde aus dem Verb „opfern“ gebildet und kommt
       ursprünglich aus dem Bereich des Sakralen. Ein Opfer war das, was man der
       Gottheit oder den Gottheiten brachte. Im Christentum steht das Opferlamm
       für Reinheit und Unschuld. Deshalb schien es eine gute Idee, das Konzept
       auf sexualisierte Gewalt (oder den Holocaust) zu übertragen, um die Opfer
       von der Schuld an den an ihnen begangenen Verbrechen freizusprechen. Bloß
       begannen mit der Umdeutung des Opferbegriffs auch die Spekulationen über
       die „typische Opfer-Persönlichkeitsstruktur“ und warum bestimmte Menschen
       zu Opfern werden und andere nicht – und ob Opfer nicht irgendwie das
       Verbrechen anziehen. Populärpsychologisch führt das dazu, dass, wenn
       beispielsweise Beziehungen zu Bruch gehen, Freund*innen zu Hilfe eilen und
       fragen: „Überlege doch mal, warum du dir so eine*n ausgesucht hast.“
       
       Okay, das ist keine Frage, aber sie erwarten trotzdem eine Antwort. Im
       Lexikon finden sich so charmante Synonyme wie: Unglückswurm oder armes
       Hascherl. Und Jugendliche bringen das mit ihrem feinen Sprachgespür in der
       Beleidigung „Du Opfer!“ auf den Punkt.
       
       Um von der Vorstellung des armen Hascherl wegzukommen, wurde in den 1990er
       Jahren der Begriff „Überlebende“ geprägt. Das hörte sich toll an, weil
       Überlebende aktiv überleben und nicht passiv zum Opfer gemacht werden.
       Allerdings brach es nicht mit dem Narrativ von Vergewaltigung als dem
       Schlimmsten, was einer Frau passieren konnte. A fate worse than death –
       oder zumindest vergleichbar mit dem Tod. Wer das, was ihr oder ihm angetan
       worden war, selbst definieren wollte, hatte ein Problem, oder ihm*ihr wurde
       ein Problem gemacht. Wie zum Beispiel Natascha Kampusch, die sich mit
       nichts so viele Feinde machte wie mit der Aussage: „Ich bin kein Opfer“.
       
       Wie vertrackt die ganze Sache ist, wird daran deutlich, dass erst eine
       Dekade früher Trauma als Diagnose in das DSM, das Diagnostic and Statistic
       Manual of Mental Disorders, aufgenommen worden war. Wer möchte, dass die
       Krankenkasse eine Therapie nach sexualisierter Gewalt bezahlt, braucht die
       psychiatrische Diagnose Trauma. Dadurch wird jedoch ein Trauma, das von
       außen zugefügt wurde, zu einer seelischen Wunde, und damit in dem
       Traumatisierten selbst begründet. In eine ähnliche Richtung geht die
       juristische Bezeichnung „Geschädigte*r“, impliziert sie doch, dass
       Geschädigte einen Schaden zurückbehalten. Und „Betroffene*r“ hört sich so …
       betroffen an.
       
       Doch keine Sorge, es gibt eine Lösung!
       
       Man muss dafür keine Neologismen bilden wie beispielsweise Refpo (Opfer
       rückwärts) oder andere kruden Konstruktionen, sondern sie ist bereits in
       unserer Sprache angelegt: Da das Substantiv „Opfer“ aus dem Verb „opfern“
       gebildet wurde, ist es nur naheliegend, aus dem Verb „erleben“ das
       Substantiv „Erlebende“ zu bilden. Denn das Einzige, was Menschen, die
       sexualisierte Gewalt erlebt haben, teilen, ist ja eben dieses Erlebnis.
       
       ## Das Erleben
       
       So wie vorher der Begriff „Überlebende“, nimmt „Erlebende“ eine
       Verschiebung vom Passiven zum Aktiven vor, allerdings ohne die damit
       einhergehende Wertung. Schließlich wird Erlebnis erst durch ein beigefügtes
       Adjektiv (wunderbares Erlebnis, grauenhaftes Erlebnis, langweiliges
       Erlebnis) näher bestimmt und lässt sogar Raum für Ambivalenzen (ein
       schreckliches, aber auch banales Erlebnis). Durch die Substantivierung
       „Erlebende sexualisierter Gewalt“ kann somit jede*r selbst bestimmen, wie
       er*sie das Erlebte bewertet. Gleichzeitig findet ein Perspektivwechsel
       statt: Die Formulierung lädt ein, über die Wahrnehmung der erlebenden
       Person nachzudenken, und nicht, was ein anderer Mensch mit dieser Person
       macht.
       
       Außerdem trifft das Wort „Erlebende“ noch keine Aussagen über Motivationen
       und Rollenverteilungen. Klassische Binaritäten wie aktiv/passiv werden
       aufgebrochen. Das Verb „leben“, das im Wort steckt, macht trotzdem
       deutlich, dass das Erlebte durchaus lebensrelevant sein kann. Manche
       Erlebnisse müssen überlebt werden, mit manchen wird gelebt, manche werden
       durchlebt und dann abgeschlossen …
       
       Selbstverständlich soll „Erlebende“ andere Bezeichnungen nicht ersetzen.
       Wer sich als Opfer, Überlebende*r oder Betroffene*r wahrnimmt, hat jedes
       Recht sich auch so zu beschreiben! Nur können wir das im Vorhinein ja nicht
       wissen. Deshalb ist es wichtig, einen Begriff zur Verfügung haben, der eine
       höchstmögliche Wertungsfreiheit gewährleistet. Aus diesem Grund setzen wir
       uns dafür ein, „Erlebende“ in den Duden aufzunehmen.
       
       Weitere Beiträge zu dieser Debatte stammen von [1][Simone Schmollack] und
       [2][Katrin Gottschalk].
       
       13 Feb 2017
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Mithu Sanyal
   DIR Marie Albrecht
       
       ## TAGS
       
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