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       # taz.de -- Vorschau auf die 67. Berlinale: Programm als Protest
       
       > Es ist wieder Berlinalezeit. Unter den knapp 400 Filmen kann man zarte
       > Bande knüpfen. Doch große politische Weltschau ist sie nur eingeschränkt.
       
   IMG Bild: Am Ende ist der Mensch immer allein – trotzdem spinnt die 67. Berlinale zarte inhaltliche Bande
       
       Ein bisschen Klotzen gehört schon dazu. Warum auch nicht? Wenn ein Festival
       wie die Berlinale sich traditionell [1][als politisch versteht], dann kann
       es bei der entregelten aktuellen Weltlage ja schlecht hintanstehen. Für die
       voraussichtlich drittletzte Berlinale unter Dieter Kosslick hat der
       Direktor der Internationalen Filmfestspiele Berlin denn auch vorab
       versprochen: „Das Programm ist der Protest.“
       
       Als Vorbild diente Kosslick dazu der Verpackungskünstler Christo, der sein
       Projekt „Over the River“ im US-Bundesstaat Colorado nach 20 Jahren
       Vorbereitungszeit vor einigen Tagen abgesagt hatte. Die Absage wollte
       Christo ausdrücklich als Protest gegen den amtierenden US-Präsidenten
       verstanden wissen.
       
       Dieter Kosslick ist Christo, der übrigens in der Sektion Berlinale Talents
       zu Gast sein wird, allerdings nicht so weit gefolgt, dass er das Programm
       der Berlinale ebenfalls komplett abgesagt hätte. Auch kann man, schon aus
       organisatorischen Gründen, bezweifeln, dass die Gestaltung der Sektionen in
       Gänze erst nach der Präsidentenwahl in Angriff genommen wurde.
       
       Doch dass man ein Zeichen setzen will, ist aller Ehren wert, selbst wenn
       die Berlinale nicht zur reinen Anti-Trump-Veranstaltung geraten kann – was
       ohnehin ziemlich schade um das Festival gewesen wäre.
       
       ## Komödien im Wettbewerb
       
       So steht die 67. Berlinale unter dem Zeichen von „Mut, Zuversicht und viel
       Humor“ in den Filmen, wie Kosslick auf der Pressekonferenz angekündigt
       hatte. Beim Blick in das Festivalprogramm sind im Wettbewerb gleich mehrere
       Komödien zu erwarten, von Altmeistern etwa wie dem Finnen Aki Kaurismäki,
       der Britin Sally Potter oder andererseits dem Österreicher Josef Hader, der
       als gestandener Schauspieler mit „Wilde Maus“ seinen Regieeinstand gibt.
       Kaurismäki nimmt dabei in seinem Wettbewerbsbeitrag „Die andere Seite der
       Hoffnung“ erneut die drängende Frage der Asylpolitik Europas in den Blick.
       
       Gemeinsame politische Ansätze kann man im Programm ansonsten über die
       Sektionen hinweg entdecken. So lassen sich hier und da zarte Fäden spinnen,
       bei denen sich inhaltlich immer wieder deutliche Verbindungslinien ergeben.
       [2][Passend zum 150. Jubiläum des „Kapitals“ von Karl Marx] gibt es sogar
       einen kleinen Marx-Kommunismus-Schwerpunkt im Programm.
       
       Allen voran Raoul Pecks Kostüm-Biopic „Der junge Karl Marx“ mit August
       Diehl in der Titelrolle. Der haitianische Filmemacher Peck ist ebenfalls im
       Panorama mit dem großen Dokumentarfilm „I Am Not Your Negro“ über den
       US-amerikanischen Schriftsteller, Bürgerrechtsaktivisten und
       Intellektuellen mit kommunistischen Sympathien James Baldwin vertreten.
       Archivmaterial und von Samuel L. Jackson gesprochene Texte Baldwins
       kombiniert Peck zu einer eindringlichen Erzählung von leidenschaftlicher
       Gesellschaftskritik.
       
       Wie um diese Thematik noch einmal aus einem ganz anderen Blickwinkel zu
       ergänzen, liefert der Regisseur Julian Radlmaier mit „Selbstkritik eines
       bürgerlichen Hundes“ schließlich eine Kommunismus-Komödie in der Sektion
       Perspektive Deutsches Kino.
       
       ## Kleiner Fokus Südkorea
       
       Das Bild eines großangelegten Ganzen mag sich für das Gesamtprogramm so
       vielleicht noch nicht zusammensetzen, bei knapp 400 Filmen wäre das
       allerdings auch recht viel verlangt. Innerhalb der einzelnen Sektionen
       stellt sich jedoch vornehmlich ein Eindruck von buntem Nebeneinander
       unterschiedlicher Ansätze ein. Hier kann man in jedem Fall erfreuliche
       Inseln hervorheben.
       
       So gibt es im Forum einen kleinen Fokus auf Südkorea, das mit Hong Sang-soo
       auch im Wettbewerb einen berühmten Repräsentanten entsandt hat. Neben dem
       aktuellen Spielfilm „Autumn, Autumn“ von Jang Woo-jin zeigt das Forum die
       herausragenden Klassiker „Aimless Bullet“ (1961) von Yu Hyun-mok und „The
       Last Witness“ (1980) von Lee Doo-yong.
       
       In beiden Filmen wird die streng hierarchische Struktur der koreanischen
       Gesellschaft – und die Spaltung in Nord und Süd – in ganz andersartigen
       Geschichten so eindrücklich wie scharf gezeichnet.
       
       ## Buddhistisches Neo-Noir
       
       Die aktuelle Gesellschaft Chinas ist hingegen im Panorama eingehend zu
       begutachten. Besonders die komplizierten Spannungen, die dort zwischen dem
       Leben in der Stadt und dem auf dem Land entstehen, bilden für die Filme
       „Ghost in the Mountains“ von Yang Heng und „Ciao Ciao“ von Song Chuan die
       inhaltliche Klammer, was mit recht gegensätzlichen künstlerischen
       Strategien ins Bild gesetzt wird. Und aus Hongkong steuert Hu Jia mit „The
       Taste of Betel Nut“ eine turbulente Dreiecksgeschichte zwischen einem
       jungen schwulen Paar und einer jugendlichen Frau bei.
       
       Als politische Symptome, die sich in indirekter Form manifestieren, könnte
       man umgekehrt das spärliche Auftreten von Filmländern wie der Türkei und
       Iran deuten. Aus beiden Ländern läuft jeweils gerade einmal ein Film im
       Programm, „Kaygi“ von Ceylan Özgün Özçelik (Panorama) und „Tamaroz“ von
       Abed Abest (Forum). Damit haben die zwei Staaten exakt so viele Beiträge
       beigesteuert wie das als Filmland eher wenig auffällige Königreich Bhutan.
       
       Das Himalaja-Land im Schatten Indiens und Tibets, dessen Einwohnerzahl in
       etwa der Bevölkerung Frankfurts am Main entspricht – und die, wie es vor
       zwei Jahren in dieser Zeitung hieß, [3][zu den „glücklichsten der Welt“
       zählt] –, hat mit „Honeygiver Among the Dogs“ immerhin einen ungewöhnlichen
       Genrefilm geschickt, einen buddhistischen Neo-Noir, wenn man so möchte.
       
       Als warnenden Sozialkommentar kann man in diesem Jahr allemal die
       Retrospektive verstehen, die sich dem Science-Fiction-Genre widmet. „Future
       Imperfect“ lautet die nüchtern gehaltene Überschrift – zugleich Anspielung
       an eine Episode Serie der „Star Trek“ – für die versammelten Beiträge, in
       denen vornehmlich dystopische Gesellschaftsentwürfe vorgeführt werden. Die
       Zukunft sieht in der Augen der Regisseure selten rosig aus, was ein
       bisschen zur gegenwärtigen Erwartungshaltung vieler Menschen rund um den
       Globus passen dürfte.
       
       ## Schwerpunkt Afrika
       
       Neben Sorge gibt es gleichwohl Zeichen der Hoffnung. So zum Beispiel für
       Filmschaffende in Afrika. Das ist zwar nicht im Wettbewerb angetreten, hat
       dafür zumindest aber im Panorama einen Schwerpunkt namens „Schwarze
       Welten“. Die südafrikanische Tragödie „The Wound“ von John Tengrove, in der
       schwules Begehren mit repressiven heterosexuellen Normen kollidiert,
       eröffnet dieses Jahr das Hauptprogramm der Sektion. Passend dazu richtet
       der European Film Market zum ersten Mal einen „Africa Hub“ ein, um
       afrikanische Filmemacher international besser vernetzen zu können.
       
       Ein weiteres Thema wird schließlich auch die Sicherheit sein. Kosslick
       kündigte den bisher „höchsten Sicherheitsstandard“ des Festivals an. In
       Cannes wurden schon im vergangenen Jahr die Sicherheitsvorkehrungen stark
       erhöht, vor jedem Einlass mussten Besucher ihre Taschen vorzeigen und sich
       mit Metalldetektoren absuchen lassen. Taschenkontrollen stehen jetzt auch
       in Berlin auf der Tagesordnung, man muss womöglich längere Wartezeiten in
       Kauf nehmen. Die Hoffnung ist jedoch, dass die Berlinale in dieser Hinsicht
       keine politischen Schlagzeilen machen wird.
       
       8 Feb 2017
       
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