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       # taz.de -- Bremer Migrationsrecht: Der rationale Diktator
       
       > Hunderte Klagen drohen zu scheitern: Das Bremer Verwaltungsgericht meint,
       > viele syrische Flüchtlinge hätten vom Assad-Regime nichts zu befürchten.
       
   IMG Bild: Dafür soll ein rationaler Diktator verantwortlich sein: Trümmer im östlichen Aleppo
       
       BREMEN taz | Shafika K. sagt es, als sei es selbstverständlich: „Sie wissen
       ja, wie das syrische Regime ist, sie kennen dort keine Gnade“. Die ältere
       Frau sitzt am Mittwoch im Saal des Bremer Verwaltungsgerichts und
       schildert, dass ihr Leben in Syrien in Gefahr sei, wenn sie zurückkehren
       würden. Nicht nur durch den Krieg, auch durch Assads Sicherheitskräfte,
       weil ihr Sohn desertierte und sie ihm dabei half. Und weil sie Kurdin ist.
       2015 floh sie zunächst aus Syrien in den Irak und später nach Deutschland.
       
       Aber so selbstverständlich wie Shafika K. es schildert, ist es für das
       Gericht in Bremen nicht. Wie viele syrische Flüchtlinge hat K. im
       vergangenen Jahr vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge statt einer
       Flüchtlingsanerkennung nur einen „subsidiären Schutz“ vor dem Krieg
       erhalten. Vor einer Abschiebung ist sie damit sicher. Aber wie viele Syrer
       klagt K. nun auf einen höheren Schutzstatus – vor allem, um das Recht zu
       haben, ihren Mann nachzuholen, der noch im Irak festsitzt. So wie es lange
       selbstverständlich war.
       
       Mit ihrer Klage ist es am Verwaltungsgericht nun am Mittwoch das erste Mal,
       dass ein solcher Fall in Bremen verhandelt wird. Die Vorsitzende Richterin
       Anette Ohrmann machte deutlich: Sie und die anderen Richter der ersten
       Kammer nehmen nicht ohne Weiteres eine politische Verfolgung von
       Rückkehrern in Syrien an. Allein weil sie in einem anderen Land Asyl
       beantragt haben, müssten sie das Assad-Regime nicht fürchten.
       
       Mindestens 300 Verfahren von Syrern sind laut Ohrmann im vergangenen Jahr
       am Verwaltungsgericht angelaufen, täglich kämen neue hinzu. Für zwei
       Drittel der Fälle, die in Ohrmanns Kammer verhandelt werden, wurden mit
       dieser grundsätzlichen Auffassung am Mittwoch nun die Weichen gestellt.
       
       Nur wenn Menschen sich politisch betätigt haben – oder bei Männern, die im
       wehrfähigen Alter sind und denen deshalb der Einzug in einen
       völkerrechtswidrigen Krieg droht, müsse man bei einer Abschiebung nach
       Damaskus eine politische Verfolgung annehmen, meinen die Bremer Richter.
       So, wie bei Shafika K.s 40-jährigem Sohn, dessen Klage am Mittwoch direkt
       im Anschluss verhandelt wurde, und den das Gericht tatsächlich als
       Flüchtling anerkennt: Er hatte im kurdischen Autonomiegebiet Rojava das
       Parlament mit aufgebaut und war einer Aufforderung zum Dienst in Assads
       Armee nicht nachgekommen.
       
       Dass seine Mutter Shafika K. Kurdin sei, reiche für den höheren
       Schutzstatus aber nicht aus. „Wir sehen nicht, warum man auf sie zugreifen
       sollte“, sagte Ohrmann über den angenommenen Fall, sie würde nach Damaskus
       abgeschoben. Dass dies nur eine theoretische Annahme ist, muss die
       Richterin Shafika K. eigens noch mal erklären.
       
       Der taz sagte die Richterin: Die Mehrheit der deutschen Verwaltungsgerichte
       gehe davon aus, dass der syrische Staat nicht rational handeln würde. „Wir
       sehen das anders.“ Sie beruft sich vor allem auf jüngste Stellungnahmen des
       Auswärtigen Amtes von Anfang Januar. Darin heißt es, es gebe keine
       Erkenntnisse über systematische Befragungen von Rückkehrern.
       
       Gleichwohl zitiert die Richterin in der Verhandlung auch eine Stelle des
       Berichts, wonach es Befragungen gegeben habe – nur deren Inhalt sei nicht
       klar. Ebenso agierten syrische Sicherheitskräfte in einem rechtsfreien Raum
       und folterten in großem Maßstab.
       
       Naif Kaya, der Anwalt von Shakifa K., hält die Auffassung des Gerichts für
       „fatal“. Er verweist auf Berichte von Menschenrechtsorganisationen, und auf
       die Rechtsprechung anderer Verwaltungsgerichte in Oldenburg und Osnabrück:
       „Osnabrück sagt, es ist davon auszugehen, dass Menschen bei der Rückkehr
       mit Folter zu rechnen haben“, sagt Kaya der taz.
       
       Weil es für seine Mandantin beim „subsidiären Schutz“ bleibt, wird sie
       ihren Mann auf legalem Weg nun frühestens am 16. März 2018 aus dem Irak
       nach Deutschland holen können. Anwalt Kaya regt sich darüber auf: „Ohne die
       Einschränkung des Familiennachzugs würde vielen ein unsicherer und oft
       tödlicher Fluchtweg erspart.“
       
       Denn gerade hier macht der Flüchtlingsstatus einen großen Unterschied
       (siehe Kasten): Für Menschen mit „subsidiärem Schutz“ wurde das Recht auf
       Familiennachzug mit dem Inkrafttreten des Asylpakets II im März 2016 für
       zwei Jahre ausgesetzt. „Um die Flüchtlingsströme besser zu bewältigen“, wie
       die Bundesregierung informierte.
       
       Dass so viele Klagen anfallen, liegt an der in Folge geänderten
       Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge: Vom März
       auf April 2016 stieg die Zahl der AsylbewerberInnen aus Syrien, die einen
       „subsidiären Schutz“ erhielten, plötzlich an. Während im ganzen Jahr 2015
       bundesweit nur 61 Syrer diesen Status erhielten, waren es 2016 ganze
       121.562.
       
       Zuvor, seit 2014, hatte das Bundesamt syrischen Flüchtlingen in einem
       schriftlichen Schnellverfahren meist die Flüchtlingseigenschaft
       zugesprochen – insgesamt 101.137 Syrern im Jahr 2015. Denn unter anderem
       das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern hatte bis dahin
       geurteilt, dass allein die illegale Ausreise vom syrischen Staat als
       „Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst“ werde.
       
       3 Feb 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jean-Philipp Baeck
       
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