# taz.de -- Beschreibung sexualisierter Gewalt: Wer vergewaltigt wurde, ist ein Opfer
> Betroffene einer Vergewaltigung werden zu Objekten gemacht. Eine Replik
> auf die Einführung des Begriffs „Erlebende“.
IMG Bild: Das Erlebte sollte klar benannt werden
Stellen Sie sich vor, eine Freundin erzählt Ihnen, sie sei vergewaltigt
worden. Oh Gott, werden Sie denken: Die Arme! Was sie wohl durchgemacht
hat? Vielleicht stellen Sie sich die Gewalt vor, die Ihre Freundin bei dem
Übergriff erfahren hat, heftige Schmerzen im Unterleib. Sie denken an
zerrissene Kleidung, an blaue Flecken an Armen und Beinen. Sie fühlen
zutiefst mit Ihrer Freundin und wollen helfen. Und dann sagt die Freundin:
Das war zwar die schlimmste Erfahrung in meinem bisherigen Leben, aber nenn
mich bitte niemals Opfer. Ich möchte lieber „Erlebende sexualisierter
Gewalt“ genannt werden.
Was würden Sie dann denken? So was wie: Klar, warum nicht, sie hat die
Vergewaltigung schließlich überlebt, das Leben geht ja weiter. Wer will
schon Opfer sein?
Oder denken Sie vielleicht: Will die mich verarschen? Sie ist vergewaltigt
worden, tut jetzt aber so, als habe das mit ihr nichts zu tun, weil sie
nicht als Opfer dastehen will?
Die Formulierung [1][„Erlebende sexualisierter Gewalt“ haben sich die
Autorin Mithu Sanyal und Marie Albrecht], Studierende sozialer Arbeit
(taz.am Wochenende vom 11./12. Februar), ausgedacht. Damit wollen sie Opfer
aus der Schublade holen, in die diese nach Meinung Sanyals und Albrechts
häufig gesteckt werden. Sie weisen mit ihrer Begriffsneufindung auf die
negative Zuschreibung hin, die beim Opfer-Begriff häufig mitschwingt:
Loserstatus, Passivität, Erstarrung.
## Zum Sexobjekt gemacht
Die beiden Frauen haben absolut recht: Betroffene sexueller Gewalt sind
keine Loser, sie sind auch nicht in jedem Fall passiv und reaktionsgehemmt.
Die Zahl der Anzeigen nach Partnerschaftsgewalt und Vergewaltigungen
steigt. Immer mehr Frauen gehen zur Polizei und machen das Erlebte
öffentlich. Sie sind im besten Sinne aktiv.
Und doch ist die strikte Zurückweisung des Opfer-Begriffs fragwürdig und
zutiefst irritierend. Was sonst als Opfer sollen Frauen (und Männer) sein,
die sexuelle und sexualisierte Gewalt erfahren? Sie sind Opfer eines
Verbrechens geworden, bei dem sie keine handelnden Subjekte mehr waren, wie
der Begriff „Erlebende“ suggerieren will. Sondern im Gegenteil: Bei einer
Vergewaltigung wird das Opfer zum (Sex-)Objekt gemacht. Sexualisierte
Gewalt ist eine schauderhafte Erfahrung. Wer so etwas er- und überlebt hat,
wird das sein Leben lang nicht vergessen.
Manche lernen, besser damit umzugehen, andere weniger. Aber niemand wird
dazu gezwungen, sich dauerhaft als Opfer zu fühlen. Ebenso wenig wie
niemand eine Opferhaltung vor sich hertragen muss, schon gar nicht
dauerhaft.
Die Neuformulierung „Erlebende sexualisierter Gewalt“ schmälert
Sexualverbrechen. Die Wortgruppe banalisiert und verniedlicht solche Taten,
macht sie harmloser und kleiner. Sie bewirkt das Gegenteil dessen, was
Sanyal und Albrecht beabsichtigen.
## Sensibler Umgang ist nötig
Die eindeutige Begriffsbipolarität – hier Opfer, dort Täter – dient der
Klassifizierung, sowohl juristisch und kriminologisch als auch
sozialpsychologisch: Es wird klargestellt, dass jemand einer anderen Person
Unrecht angetan hat. Dadurch wird ein Täter nicht automatisch zu einem
Monster und ein Opfer nicht automatisch zu einer bemitleidenswerten,
passiven Person. Bestenfalls wird das Opfer zu jemandem, der Hilfe braucht
und diese bekommen sollte.
Wer heute bei der Polizei eine Vergewaltigung anzeigt, wird intensiv
ausgefragt: Was ist genau passiert? Wie lange hat das gedauert? Wurden
Gegenstände gegen Sie verwendet? Für nicht wenige Opfer ist das eine
Tortur, weil sie sich schämen. Manche empfinden das Erlebte beim Erzählen
noch einmal heftig nach. Wenn die Beamten ihren Job gut machen, werden die
Betroffenen nicht ein zweites Mal zum Opfer gemacht. Es wird versucht, die
Tat aufzuklären und den Betroffenen zu helfen. Das war nicht immer so.
Es hat Jahrzehnte, große Ausdauer und viel Kraft von Frauen- und
Opferverbänden gebraucht, bis es Polizeibeamte gab, die sich auf
sexualisierte Gewalt spezialisiert haben. Die sich Zeit für die Opfer
nehmen, ihnen stundenlang zuhören, sensibel mit ihnen und dem Erlebten
umgeben. Die nicht sagen – so wie das noch vor ein paar Jahren war: Selbst
schuld, was tragen Sie auch so einen kurzen Rock!
Es hat viel Überzeugungsarbeit bedurft, dass Partnerschafts- und sexuelle
Gewalt im Curriculum der Polizeiausbildung mittlerweile eigenständige
Bestandteile sind. Dass es Opferschutzbeauftragte und Koordinatorinnen für
häusliche Gewalt bei der Polizei gibt. Dass auch im Gerichtssaal mit den
Opfern sensibler umgegangen wird.
Zur Erinnerung: Erst seit 1997 ist Vergewaltigung in der Ehe strafbar, seit
2002 gilt das Gewaltschutzgesetz. Neuerdings ist in Deutschland sogar
Grapschen strafbar. All diese Gesetze erkennen an, dass es Situationen
gibt, in denen Menschen hilflos anderen ausgesetzt und dabei Opfer von
Gewalt werden können.
Das sollte man auch genauso deutlich benennen. Und nicht durch eine
verwässerte Bezeichnung weichspülen.
19 Feb 2017
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## AUTOREN
DIR Simone Schmollack
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