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       # taz.de -- Stendal-Stadtsee, eine Ortserkundung (3): Die Enge der Großsiedlung
       
       > Armut schränkt ein. Trotzdem gibt es in Stendal-Stadtsee Leute, die ihre
       > Spielräume testen: Sarah will weg, Deman Arbeit und Herr Jany einen
       > Seniorenclub.
       
   IMG Bild: Blick auf Stadtsee III: Das viele Grün gibt dem Stadtteil einen fast dörflichen Charakter
       
       Stendal taz | Heimat ist etwas Leichtes und etwas Schweres. Leicht zu
       verlassen, unmöglich abzustreifen. Wo sie liegt, ist oft nicht klar: Heimat
       kann eine Gegend sein, eine Stadt, eine Siedlung voller Plattenbauten an
       der Peripherie. Frei von ihr wird man nie ganz, weil auch der Drang weg von
       ihr immer zu ihr zurückführt.
       
       Sarah: Manchmal frage ich mich: Was wäre, wenn ich in einer behüteteren
       Gegend aufgewachsen wäre? Vielleicht würde ich die kleinen Dinge nicht so
       schätzen. Ich kann mich über alles freuen, auch wenn mir jemand Marzipan
       schenkt, obwohl ich kein Marzipan mag.
       
       Marion Zosel-Moor: Sie stehen hier mitten in diesem
       Riesenwohnungsbauprojekt der DDR. Ich kam 1976 hierher, damals kamen Leute
       aus der ganzen Republik, um hier zu leben. Es sollte ja was aufgebaut
       werden.
       
       Damon: (rappt) Mein Leben ist hart, doch mein Wille ist stärker. / Die
       Stille in mir zerbricht wie ein Kerker / Mein Leben ist hart, doch mein
       Blick geht nach vorn.
       
       Stendal, das war einmal die Zukunft. Auf der größten Baustelle der DDR
       mauerten 7.000 Arbeiter an einem Atomkraftwerk, das nie in Betrieb ging.
       Heute steht Stendal als Sinnbild für sozialen Niedergang, das Viertel
       Stadtsee hat es besonders schlimm getroffen. Aber es gibt Menschen, die
       Pläne für ihr Leben machen, die sich nicht abfinden wollen mit der
       Situation, wie sie ist.
       
       Sarah ist 17, sie trägt lange glatte Haare und Brille. Gerade ist sie in
       den Jugendclub Eckstein gekommen. Sie trägt ihr Lieblingskleid, es ist blau
       mit weißen Punkten; sie hat es bei einer Geschenkaktion im Jugendclub
       bekommen.
       
       Sarah: Ich gehe aufs Gymnasium, in die 11. Klasse. 2018 bin ich hoffentlich
       fertig. Meine Mutter war dagegen, dass ich aufs Gymnasium gehe, sie hat
       selbst keinen Schulabschluss.
       
       Damon: (rappt) Bis zum Schluss werd ich meine Meinung vertreten / Denn so
       wie das hier läuft, ist das kein schönes Leben.
       
       Deman heißt eigentlich Dennis. Zu Deman wird er, wenn er rappt, ein magerer
       Typ, 30 Jahre alt, mit knochigen Wangen und Käppi. Er lebt bei seiner
       Freundin, die Wohnung ist tadellos ordentlich, Fliesentisch, Schrankwand,
       Sitzgruppe.
       
       Deman: Mit dem Rappen hab ich durch den Knast angefangen. Ich saß wegen
       Körperverletzung, Raub, Einbruch, da war fast alles dabei. Ich hab Drogen
       genommen, verdammt viele Drogen, Chrystal, Koks, Heroin.
       
       ## Die Ehrenamtlichen
       
       Wer nach Stendal will, muss quer durch die Altmark fahren. Die Landstraße
       zieht weite Schleifen durch Felder und Weiden, Holzkreuze da und dort. Die
       Altstadt zieht am Fenster vorbei, Fachwerkhäuser, Backsteinkirchen. Dann
       tauchen die Plattenbauten von Stadtsee auf, nüchterne Wohngeometrie,
       monotone Quader, von nah und von fern.
       
       Im vordersten Teil, Stadtsee I, sitzen drei ältere Frauen in einem Raum mit
       blassgrünen Wänden. Das ist der Vorstand der Bürgerinitiative Stendal. Die
       vermittelt ehrenamtliche Helfer an alte Menschen: Die Alten kriegen für
       wenig Geld Hilfe im Haushalt, die Ehrenamtlichen eine Entschädigung. Die
       Bürgerinitiative betreibt auch eine Tagesstätte für Demenzkranke.
       
       Marion Zosel-Mohr: Was hier passiert, ist echtes bürgerschaftliches
       Engagement – das ist die andere Seite von Stadtsee. Der demografische
       Wandel lässt uns keine Wahl.
       
       Marion Zosel-Mohr kam nach Stendal der Arbeit wegen, im Atomkraftwerk. Vor
       einigen Jahren gründete sie eine Freiwilligenagentur als Plattform für
       soziales Engagement und Teilhabe. Sie hat gesehen, wie sich Stadtsee
       gewandelt hat, wie aus Arbeitersiedlungen Orte wurden, in denen fast nur
       noch Hartz-IV-Empfänger, prekär Beschäftigte und Alte wohnen. Kein Getto,
       aber ein Ort, an dem die Möglichkeiten begrenzt sind.
       
       Herr Jany: Wir hatten hier im Haus einen Club für die alten Leute. Das
       Arbeitsamt schickte eine Ein-Euro-Kraft. Dann hat der Betreiber gewechselt,
       und der neue machte nicht mehr weiter. Wir waren am Boden zerstört, als es
       hieß: Das Café macht zu.
       
       Gerd Jany, gepflegter Schnäuzer, Hemdkragen unterm Pullover, pensionierter
       Theatermaler, wird bald 80. Am Küchentisch schlägt er ein Fotoalbum auf,
       darin Bilder von lachenden Alten, die um gedeckte Tafeln sitzen.
       
       Herr Jany: Ich war im Stadtseniorenrat früher und hab immer gesagt: Wir
       müssen sehen, dass wir das Leben in Stadtsee ein bisschen aktivieren.
       
       Sarah: Ich habe fünf Geschwister, lebe jetzt aber allein mit Papa. Meine
       Mutter ist abgehauen. Mein Papa war früher im Heim und will, dass ich alles
       habe, was er früher nicht hatte.
       
       Sarah ist eine gute Schülerin. In der neunten Klasse wechselte sie von der
       Oberschule auf ein Gymnasium. Der Vater und die Lehrer setzten sich für sie
       ein. Nach dem Abitur will sie studieren, in Halle, auf Lehramt.
       
       Sarah: Man will raus aus dem Viertel, hier hängt man fest. Das Studium ist
       eine Möglichkeit dafür. Meinen Vater will ich mitnehmen, der kommt ja sonst
       auch nicht hier raus.
       
       ## Es gibt auch schöne Ecken
       
       Es gibt viele Viertel wie Stadtsee, im Osten wie im Westen, ob Duisburg,
       Leipzig, Bremerhaven, die Probleme ähneln sich, niedrige Kaufkraft, hohe
       Arbeitslosigkeit, und noch was eint die Menschen: Sie mögen es nicht, wenn
       Fremde kommen, die ihnen sagen, wie schlecht es um sie steht.
       
       Marion Zosel-Moor: Es gab eine Dokumentation im MDR, da haben sie wieder
       nur die hässlichen, grauen Häuser gefilmt. Die gibt es, aber es gibt auch
       viele schöne Ecken. Es kommen ja jetzt auch schon wieder Leute nach Stendal
       zurück. Hier kann man preiswert und gut wohnen. Ich sag immer: Wir sind die
       schönste Vorstadt von Berlin.
       
       Deman: Das ist das schlimmste Viertel hier, Stadtsee III. Das ist so. Ein
       Kumpel von mir ist im Knast, weil er jemanden abgestochen hat. Aber ich
       fühl mich pudelwohl. Wenn das mit der Arbeitsstelle klappt, bleibe ich
       hier. Das ist, was ich seit 30 Jahren versuche zu erreichen.
       
       Deman hat viel hinter sich, Drogen, die Kriminalität, Knast. Er hat zwei
       Kinder mit seiner Ex, für die rappt er: Leonie und Jason, ihr seid das
       Beste von mir. Jetzt ist er entschlossen, sich ein neues Leben aufzubauen,
       ein geregeltes Leben.
       
       Deman: Von den ganzen Leuten, mit denen ich feiern war, habe ich mich
       gelöst. Ich bin jetzt nur noch zu Hause. Und auf der Arbeit. Ich mache ein
       Praktikum auf einer Baustelle, danach will die Firma mich einstellen. Ich
       arbeite jeden Tag zwölf Stunden, wir bauen ein Haus.
       
       Sarah: Das Viertel macht einen kaputt. Man sieht Kinder, die rauchen.
       Glasscherben auf den Spielplätzen, die Alkoholiker auf der Straße. Wenn man
       vorbeigeht, rufen sie: Ey. Verpiss dich. Das ist echt beschissen. Armut ist
       das eine. Aber man kann doch trotzdem höflich sein.
       
       Herr Jany: Man merkt die Vereinsamung der alten Menschen, die haben nicht
       mehr als den Einkauf, dann gehen sie nach Hause, machen den Fernseher an.
       Auch für Jugendliche wird zu wenig angeboten. Sie haben einen Sportplatz
       eingerichtet, der wird nie benutzt. Es fehlt an Clubs. Es liegt alles am
       Geld.
       
       Marion Zosel-Mohr: Wir könnten hier eine Feldstudie für die Bundesrepublik
       machen. Aber wir können die Welt nur im Kleinen verändern. Es fehlt
       politisches Querdenken, die Politiker gucken immer nur auf das Aktuelle. Es
       muss doch mal eine gesellschaftliche Vorstellung geben: Wie wollen wir
       leben?
       
       ## Viel Grün
       
       Die Frauen von der Bürgerinitiative haben miterlebt, wie die Wohnblocks
       aufgestellt und wieder weggeräumt wurden wie Spielsteine in einem
       Planspiel. Wer vorangekommen ist, ist weggezogen. Die drei aber sind noch
       hier, und sie wollen etwas tun, für die Alten und die Ehrenamtlichen, oft
       Hartz-IV-Empfänger, die ein paar Euro extra gut gebrauchen können. Alle
       sollen etwas davon haben. Das ist die Idee. Aber die Mittel sind knapp, und
       immer müssen sie aufpassen, dass ihren Helfern nicht ihr Hartz-IV-Satz
       gekürzt wird.
       
       Marion Zosel-Mohr: Das Schizophrene ist: Wir müssen Geld in den Kreislauf
       bringen. Die Politik will Wachstum, die Ehrenamtlichen brauchen das Geld.
       Wir würden die Tagesstätte auch abends öffnen, aber das schaffen wir nicht,
       da kommen wir an unsere Grenzen.
       
       Deman: Arbeitslos sein ist auch normal. Ich kenne viele, die sagen: Zwei
       Monate umsonst arbeiten – was ist das fürn Scheiß? Aber ich zieh das jetzt
       durch. Anstrengend ist das, klar, was soll’s. Ich bin ein Mann.
       
       Am Nachmittag fällt diesiges Licht über die Häuser; viele wurden um ein
       paar Etagen gekürzt; statt elfgeschossigen Riesen liegen nun vier-,
       fünfstöckige Gebäuderiegel an der Straße, dazwischen viel Grün, das gibt
       dem Viertel fast etwas Dörfliches. Ein Ein-Euro-Jobber sammelt Abfall mit
       einer Metallzange auf.
       
       Sarah geht oft in den Jugendclub. Sie und ihr Vater leben von Hartz IV, er
       hat dazu noch einen Ein-Euro-Job als Hausmeister im Eckstein. Trotzdem ist
       das Geld knapp, die beiden gehen jeden Samstag zur Tafel.
       
       Sarah: Es ist schon ungerecht. Ich würde so gern mal mit neuen Klamotten in
       die Schule gehen. Aber manchen geht es noch schlechter als uns. Was wir
       haben, reicht fürs Leben.
       
       Gerd Jany ist seit einem Unfall vor etwa einem Jahr sehr eingeschränkt. Er
       müht sich hoch, fährt mit dem Fahrstuhl in den Keller. Zwischen Wänden aus
       Rohbeton stehen Tisch und Stühle, es ist duster und feucht. Hier treffen
       sich die Alten, seit ihr Club geschlossen ist.
       
       Herr Jany: Schon diese Kälte. Die Atmosphäre. Es ist so was von
       entwürdigend. Wenn das der Bürgermeister sehen könnte – der würde sagen:
       Das müssen wir sofort verändern.
       
       25 Feb 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gabriela Keller
       
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