URI: 
       # taz.de -- Entscheidung über die Schulform: Kreuzchen-Empfehlung soll weg
       
       > Gymnasialempfehlungen kränken die Kinder, diskriminieren Stadtteilschulen
       > und seien nicht sinnvoll, sagt die parteilose Abgeordnete Dora Heyenn
       
   IMG Bild: Zu kompliziert oder nicht? Die Empfehlung, wer auf welche Schule soll, kann verhängnisvoll sein
       
       Hamburg taz | Mit den Zeugnissen brachten alle Viertklässler gerade wieder
       noch ein besonders toxisches Papier mit nach Hause: einen Zettel mit einem
       Kreuzchen. Bei etwa vier von zehn Kindern ist angekreuzt, dass sie ihre
       Schulzeit auch am Gymnasium fortsetzen könnten. Bei den übrigen ist nur „in
       der Stadtteilschule“ angekreuzt. Die parteilose Abgeordnete Dora Heyenn
       will diese Kreuzchen-Praxis beenden. Mit der Lehrer-Initiative Bildungsclub
       hat sie jetzt eine Unterschriftensammlung gestartet. Überschrift:
       „Grundschulempfehlung – Nein danke!“
       
       Denn seit 2010 ist die Kreuzchen-Empfehlung „nicht mehr vom Schulgesetz
       gedeckt“, sagt Ulrich Vieluf, ehemaliger Staatsrat der Schulbehörde und
       Schulforscher, der am Mittwochabend auf einer Tagung im Rathaus zu Gast
       war, zu der Heyenn und Bildungsclub eingeladen hatten. Heyenn war 2010
       Chefin der Linksfraktion und ebenso wie Vieluf dabei, als nach dem Stopp
       der sechsjährigen Primarschule alle Parteien über ein neues Gesetz
       verhandelten.
       
       Die Schulformempfehlung wird wegfallen, berichtete damals die taz und
       zitierte den Grünen Michael Gwodsz mit den Worten: „Den Zettel mit Ja oder
       Nein wird es nicht mehr geben.“ Stattdessen sollten die Eltern zur
       schulischen Zukunft ihrer Kinder nach der Grundschule beraten werden und
       dann entscheiden. Die Zeugniskonferenz sollte nur eine Einschätzung zur
       Laufbahn und Lernentwicklung des Kindes geben.
       
       Doch die Kreuze blieben. Bekanntlich platzte die schwarz-grüne Regierung
       und der Interims-Schulsenator Dietrich Wersich (CDU) packte den Kindern im
       Januar 2011 einfach wieder einen Zettel mit der Kreuzchen-Empfehlung mit in
       den Ranzen. Sein Nachfolger Ties Rabe (SPD) blieb dabei.
       
       Das ist schon deshalb fragwürdig, weil das Abitur sowohl am Gymnasium als
       auch an der Stadtteilschule erreicht werden kann. Anders als öffentlich
       wahrgenommen gebe es an der Stadtteilschule auch kein „Abitur light“, sagt
       Vieluf. Die Zahlen beeindrucken: Nicht mal fünf von 100 Kindern an der
       Stadtteilschule haben ein Gymnasiums-Kreuz. Misst man ihren Lernstand am
       Anfang der Oberstufe, gibt es beim Lesen 80 Prozent Überschneidung mit den
       Elftklässlern der Gymnasien. Doch weil alle das Stadtteilschul-Kreuz
       erhalten und nur wenige dazu das Gymnasium als Option, entstehe eine
       „Hierarchisierung, die der Gleichwertigkeit widerspricht“, sagt Vieluf.
       Für das Selbstwertgefühl der Kinder sei das katastrophal.
       
       Dass Lehrer bei Zehnjährigen nicht vorhersagen können, ob sie in der Schule
       Erfolg haben werden, schreibt selbst der Senat. Es existiere auch kein
       „prognostisches Verfahren, dass darüber Auskunft geben könnte“, heißt es in
       der Antwort auf eine Parlamentsanfrage.
       
       Lehrer sind oft unsicher und müssten eigentlich als dritte Option „weiß
       nicht“ ankreuzen, sagt Vieluf, der zu dieser Frage empirische Studien
       durchführte. Doch wenn de Lehrer unsicher seien, zögen sie das Elternhaus
       mit ein, in der Erwartung, das „bildungsnahe“ Eltern eher die nötige
       Unterstützung für ein Kind am achtjährigen Gymnasium leisten könnten. So
       kommt es zwischen Klasse 4 und 5 verstärkt zur Trennung der Kinder nach
       Herkunft. Das kann die Forschung seit 40 Jahren mit Zahlen belegen.
       
       In Hamburg zählt der Elternwille. Am Gymnasium hat jedes vierte Kind keine
       Empfehlung. Doch es müssen etliche diese Schulform verlassen. „Der
       Elternwille ist von unserer Verfassung gedeckt, eine verbindliche
       Aufteilung der Kinder durch den Staat verstößt gegen das
       Diskriminierungsverbot“, sagte am Mittwoch der Rechtswissenschaftler der
       Ruhr-Uni Bochum, Wolfram Cremer. Doch auch Hamburgs Praxis könnte
       rechtswidrig sein, wenn das Gesetz keine Schulformempfehlung vorsieht. „Ein
       Kind könnte klagen“, sagte Cremer. Die Schulbehörde sagt, sie teile diese
       Einschätzung nicht.
       
       Wie sehr das Thema bewegt, wurde auf der Tagung deutlich. „Die Empfehlung
       kränkt die Kinder, macht ab Klasse 3 Unruhe in der Schule“, sagte eine
       Grundschulleiterin. Und eine Mutter schlug eine radikale Umbenennung beider
       Schulsäulen vor: „Warum sagen wir nicht Stadtteilgymnasium 8 und
       Stadtteilgymnasien 9?“ Heyenn will dem Schulsenator am 28. März möglichst
       viele Unterschriften übergeben und dann „hören, was er sagt“.
       
       24 Feb 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kaija Kutter
       
       ## TAGS
       
   DIR Schule
   DIR Gymnasium
   DIR Stadtteilschule
   DIR Turbo-Abi
   DIR Grundschule
   DIR Hamburg
   DIR Ties Rabe
   DIR Stadtteilschule
   DIR Hamburg
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kommentar Turboabi im Wahlkampf: Das Feld gehört nicht der CDU allein
       
       Das Aufwachsen unserer Kinder gehört unbedingt in Schleswig-Holsteins
       Wahlkampf. Am Streit um besseres Abitur sollten sich alle Parteien
       beteiligen.
       
   DIR Die Selektion der Kinder: Die Qual mit der Schul-Wahl
       
       Ende Januar beginnt wieder die Anmelderunde für die 5. Klassen. Die
       Schulform ist frei wählbar, die Schule nur dann, wenn Platz ist.
       
   DIR Kritik an Hamburger Bildungsreform: Stadtteilschule macht schlau
       
       Studie bescheinigt der Stadtteilschule erfolgreiche Arbeit. Zuletzt waren
       es 2.886 Abiturienten. Trotzdem kritisiert die schwarz-gelbe Opposition in
       Hamburg die Bildungsreform.
       
   DIR Anja Bensiger-Stolze über Bildungspolitik: „Erfordernisse ignoriert“
       
       Anderswo ist die Bildungspolitik beweglicher, sagt Anja Bensinger-Stolze,
       Landeschefin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)
       
   DIR Neue Schul-Debatte in Hamburg: „Die Schulen brauchen Freiheit“
       
       Schulleiter warnen vor einem Scheitern der Stadtteilschule. Simple
       Antworten wie Mathe-Offensiven helfen nicht, sagt deren Sprecher Thimo
       Witting
       
   DIR Bildungsdebatte in Hamburg: Schulkooperation statt Konkurrenz
       
       Schulsenator Thies Rabe warnt vor neuem Schulkrieg. Enge Zusammenarbeit
       zwischen Gymnasien und Stadtteilschulen als Königsweg?
       
   DIR Stadtteilschulen fürchten sozialen Abstieg: Zank im Schulfrieden
       
       Eine Hambuger Stadtteilschule hat kaum noch gymnasialempfohlene Kinder und
       wird deshalb infrage gestellt. Elternräte ärgert das.