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       # taz.de -- Referendum in der Türkei: Ein neues Ermächtigungsgesetz
       
       > Kann man die angestrebte Verfassungsänderung in der Türkei mit der
       > Machtergreifung Hitlers vergleichen? Unser Autor kommt zu einem
       > verblüffenden Ergebnis.
       
   IMG Bild: Manche hätten doch lieber nur malen sollen.
       
       Sie fragen sich, wie es dazu kommen konnte, dass das türkische Volk in
       einem Referendum über das Präsidialsystem abstimmt? Ein Blick in die
       Geschichte zeigt, wie eine Partei das Parlament dazu brachte, sich selbst
       aufzulösen.
       
       Nach seiner Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 leitete Adolf
       Hitler sofort alles in die Wege, um die ganze Macht an sich zu ziehen.
       Obwohl die NSDAP nach den Wahlen einige Monate die größte Partei im
       Parlament war, besaß Hitlers Partei mit 196 Sitzen nur eine knappe Mehrheit
       von 30 Prozent – weit entfernt von der Mehrheit, die Hitler für seine
       Zwecke benötigte. Deshalb drängte er darauf, umgehend vorgezogene Wahlen
       auszurufen, die dafür sorgen sollten, die Arithmetik im Parlament zu
       verschieben.
       
       Der Prozess des „Ermächtigungsgesetzes“ in Deutschland 
       
       Hitler gelang es, das alte Staatsoberhaupt Hindenburg zu überreden, am 5.
       März 1933 neue Wahlen abzuhalten. In der chaotischen Lage, in der die
       Anhänger der Nazipartei und die linke Opposition sich Straßenschlachten
       lieferten, brannte sechs Tage vor der Wahl unter mysteriösen Umständen der
       Reichstag. Dieser Vorfall kam Hitler und seiner Partei als Gelegenheit
       zupass, vor und nach den Wahlen die Opposition zu eliminieren.
       
       Unmittelbar nach den Wahlen wurde die KPD als Verursacherin des
       Reichstagsbrandes verboten. Im Zuge der zunehmenden Angriffe musste zudem
       eine Reihe von Personen aus der Führungsriege der Sozialdemokratischen
       Partei (SPD) das Land verlassen. Obwohl die NSDAP mit 43,9 Prozent der
       Stimmen auf 288 Sitze im Parlament kam, musste sie mit der 52 Sitze
       zählenden Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) eine Koalition eingehen, um
       die Mehrzeit zu erzielen.
       
       Als Hitler durch die Wahlen nicht das erreichte, was er wollte, unternahm
       er einen radikaleren Schritt: Er drückte ein Gesetz durch, das seine
       Regierung mit außergewöhnlichen Vollmachten ausstattete. Dies bedeutete die
       Abschaffung des Parlaments, denn die Vollmachten, die der Regierung erteilt
       werden sollten, waren im Grunde die wichtigsten Vollmachten des Parlaments.
       
       Das Gesetz setzte zudem die Änderung der geltenden Weimarer Verfassung
       voraus. Dies schien wiederum nicht einmal mit der Unterstützung des
       Koalitionspartners DNVP möglich zu sein, denn für eine Verfassungsänderung
       war eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit von 432 Abgeordneten nötig.
       NSDAP und DNVP kamen zusammen aber nur auf 340 von 647 Abgeordneten.
       
       Unter diesen Umständen zielte Hitler zusätzlich auf die Stimmen der
       Zentrumspartei. Er überredete schließlich den Vorsitzenden der Partei
       Ludwig Kaas und nahm ihm das Versprechen ab, ihn zu unterstützen. Da 81
       kommunistische Abgeordnete im Gefängnis saßen oder untergetaucht waren, war
       die 120 Sitze zählende SPD die einzige Partei, die den Gesetzentwurf
       ablehnte.
       
       Um die Zweidrittelmehrheit zu erlangen, bediente sich der
       Parlamentspräsident Hermann Göring einer noch nie dagewesenen Methode: Er
       reduzierte die Zahl der für die Zweidrittelmehrheit notwendigen
       Abgeordneten von 432 auf 378. Das begründete er damit, dass die
       kommunistischen Abgeordneten „ohne Entschuldigung“ nicht zur Abstimmung
       erschienen seien. Während der Abstimmung am 23. März 1933 marschierten
       SS-Einheiten sowie SA-Einheiten, die Straßentruppen von Hitler, im
       Reichstag auf, um die Abgeordneten einzuschüchtern und zu bedrohen.
       
       Die Abgeordneten der oppositionellen Sozialdemokratischen Partei konnten
       das Gesetz nicht verhindern: Es passierte das Parlament mit 444 Stimmen
       (von insgesamt 538 gültig abgegebenen Stimmen, Anm.d.Red) und wurde sofort
       in Kraft gesetzt, indem es von Hindenburg am gleichen Tag ratifiziert
       wurde.
       
       Das deutsche Ermächtigungsgesetz 
       
       Das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ bestand aus fünf
       knappen Paragrafen. Die Gesetzgebungskompetenz, die zuvor ausschließlich
       beim Parlament gelegen hatte wurde nunmehr auch der Regierung erteilt. Die
       neue Zuständigkeit beinhaltete auch den Erlass neuer Gesetze, die gegen die
       gültige Verfassung verstoßen konnten.
       
       Einige Monate nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes wurden außer der
       Nazipartei alle Parteien verboten, einschließlich der DNVP sowie der
       Zentrumspartei, die das Gesetz unterstützt hatten. Das deutsche Parlament
       bestand als Institution nur noch auf dem Papier. So hat sich das Parlament
       mit dem Erlass des Ermächtigungsgesetzes eigenhändig abgeschafft.
       
       Obwohl die Gültigkeit des Gesetzes vier Jahre betrug, wurde es 1937 sowie
       1941 zwei Mal verlängert. Im Jahre 1945 existierte weder das Parlament noch
       das alte Deutschland mehr.
       
       Der Prozess der Verfassungsänderung in der Türkei 
       
       Gegen Ende des Jahres 2016 brachte Erdoğan das Präsidialsystem, das er eine
       Zeit lang aufs Eis gelegt hatte, noch einmal auf die Tagesordnung. Dieses
       Regime setzt eine Verfassungsänderung sowie ein Referendum voraus. Für die
       Mehrheit von 60 Prozent, mit der allein die Verfassungsänderung
       durchgebracht werden kann, reichen die Stimmen der AKP nicht aus.
       
       Deshalb überredete Erdoğan den Vorsitzenden der MHP (Partei der
       Nationalistischen Bewegung, Anm.d.Red.), ihn zu unterstützen. „Der
       Gesetzentwurf zur Verfassungsänderung der Türkischen Republik“, der ab 9.
       Januar 2017 im Parlament beraten wurde, passierte trotz heftiger Kritik der
       CHP- bzw. HDP-Abgeordneten, die nicht gerade im Gefängnis sitzen, am 20.
       Januar das Parlament. Der Weg für ein Referendum war geebnet.
       
       Um eventuelle „Fehler“ von einigen AKP- bzw. MHP-Abgeordneten zu
       verhindern, die sich während der Beratungen im Parlament über die
       allgemeine politische Lage sowie das Ein-Mann-Regime Gedanken machten,
       kontrollierten die „Kommissare“ dieser Parteien den Abstimmungsprozess
       streng.
       
       So wurde der Passus in der Verfassung, der eine geheime Abstimmung
       vorsieht, in aller Öffentlichkeit mit Füßen getreten. Die oppositionellen
       Abgeordneten wurden während der Abstimmung von AKP-Abgeordneten körperlich
       angegriffen. Entgegen gängiger Tradition verhinderte die AKP-Regierung die
       Live-Übertragung des Vorgangs im Parlament im Fernsehen.
       
       Auf eine Person abgestimmtes System 
       
       Wie in Deutschland im Jahre 1933 zielt die Neuordnung in der Türkei nicht
       auf ein System, das unabhängig von einzelnen Personen funktioniert, sondern
       darauf, eine Person mit außergewöhnlichen Vollmachten auszustatten.
       
       Das „Präsidialsystem“ weist eine Parallele zum deutschen
       „Ermächtigungsgesetz“ auf, insofern das Parlament seine eigene Bedeutung
       entwertet. Die Vollmachten des Parlaments, die 1933 zwar auf dem Papier der
       deutschen Regierung erteilt, aber in Wirklichkeit von Adolf Hitler
       angewendet wurden, werden mit dem neuen Gesetz in der Türkei dem
       Staatsoberhaupt erteilt. Die Gewaltenteilung wird rückgängig gemacht – die
       Exekutive, Judikative und Legislative werden dem Staatschef unterstehen.
       
       Mit anderen Worten: Zusätzlich zu den legislativen Befugnissen des
       Parlaments wird er die exekutiven Befugnisse übernehmen, die im bestehenden
       System von Ministerpräsident sowie dem Ministerrat wahrgenommen werden.
       Zudem stellt der Staatschef durch die Ernennung von Oberrichtern die
       Judikative vollends unter seine Kontrolle.
       
       13 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Melih Kırlıdoğ
       
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