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       # taz.de -- Franz-Marc-Ausstellung in Berlin: Wer fängt die blauen Pferde?
       
       > Das Bild „Der Turm der blauen Pferde“ ist seit 80 Jahren verschollen. Nun
       > fragen 20 Künstler nach seinem Verbleib – und wer's findet, darf's
       > behalten!
       
   IMG Bild: Eine der Arbeiten für die Ausstellung „Vermisst. Der Turm der blauen Pferde von Franz Marc“ stammt von Johanna Diehl und heißt „Ein ruhiger Tag“, 2016
       
       Irgendwann sagt Katja Blomberg vom Haus am Waldsee den wohl
       sensationellsten Satz des Tages: „Es würde dem gehören, der es hat“, sagt
       sie auf die Frage, was passieren würde, wenn das Bild „Der Turm der blauen
       Pferde“ wider Erwarten doch noch auftauchen würde. Der Finder des
       Ölgemäldes mit den blau durchleuchteten und dramatisch gestaffelten
       Pferdeleibern vom Münchener Kultmaler Franz Marc – der im Ersten Weltkrieg
       starb – könnte sich freuen. Das Bild, eines der Hauptwerke der
       Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, wäre sicher eines der wertvollsten
       der Welt.
       
       Im Augenblick jedoch ist der „Turm“ nur eines der sagenumwobensten: 1913
       gemalt, kaufte es 1919 die Berliner Nationalgalerie. 1937 wurde es
       beschlagnahmt, kam nach wenigen Tagen in der Münchener Ausstellung
       „Entartete Kunst“ in ein Depot nach Berlin zurück – und wurde dort wohl vom
       NS-Politiker Hermann Göring vereinnahmt. Danach verschwand es.
       
       Was, wenn das berühmte Gemälde verschleppt wurde, in einem Schweizer
       Banksafe liegt, wie es um die Jahrtausendwende herum einmal durch die
       Medien ging? Was, wenn es tatsächlich noch einmal 1948/49 vom Berliner
       Journalisten Joachim Nawrocki gesichtet worden ist? Im Haus der Jugend
       direkt neben dem Haus am Wannsee, wie er behauptet hat, wo damals junge
       Pfadfinder ein- und ausgingen? Was, wenn es von diesen im Garten hinterm
       Haus verbrannt wurde?
       
       Mit all diesen Annahmen und Legenden um das Gemälde, die 80 Jahre nach
       seinem Verschwinden noch immer gären, setzen sich nun 20 zeitgenössische
       Künstler im Haus am Waldsee auseinander: In der Ausstellung „Vermisst. Der
       Turm der blauen Pferde von Franz Marc“, die dort bis zum Juni zu sehen ist.
       Das Haus am Waldsee ist prädestiniert für diese Schau, denn hier, in der
       ehemaligen Reichsfilmkammer, will Reichskunstwart Edwin Redslob den „Turm“
       1945 noch einmal gesehen haben.
       
       Eine der Kernfragen, die die Künstler mit den Mitteln der Fotografie,
       Malerei, Zeichnung, Bildhauerei, Installation und Literatur stellen, ist
       die: Was macht es mit einem Bild, wenn es nur noch als Verlust, nur noch
       virtuell vorhanden ist? Via Lewandowsky etwa hat ein ausgestopftes Pferd in
       den großen Hauptausstellungsraum gestellt, durchbohrt von vier Pfeilen. Es
       ist nur noch ein totes Objekt, aber trotzdem wirkt es sehr präsent. So, als
       wollte es fragen: Wie würden wir den „Turm der blauen Pferde“ heute sehen?
       Wäre das Bild so präsent wie in unserer Vorstellung?
       
       ## Gleichgültiges Nachkriegsdeutschland
       
       Eine andere, fast noch interessantere Frage ist die: Warum reagierte die
       deutsche Nachkriegsgesellschaft derart gleichgültig auf Gerüchte wie die
       erwähnten? Warum soll beispielsweise der damalige Direktor der
       Nationalgalerie nur einen Mitarbeiter ins Haus der Jugend zu den
       Pfadfindern geschickt haben – und wie kann es sein, dass dieser nach einer
       halben Stunde wieder abzog?
       
       So versucht die Künstlerin Johanna Diehl, dem Verdrängten der deutschen
       Nachkriegsgeschichte auf den Grund zu gehen. Ledereinbände hat sie gerahmt
       und in vier Reihen nebeneinander gehängt – von Tagebüchern, die in ihrer
       Familie 70 Jahre lang geführt worden sind. Die etwa 50 Bilder wirken
       ziemlich leer.
       
       Oder Künstler Martin Assig: Eines seiner ornamentalen Gemälde zeigt kleine
       Pferdekörper mit Sprechblasen, darin Wörter wie „hauchen“, „murmeln“ und
       „nuscheln“. Es geht um gestörte Kommunikation.
       
       ## Vielleicht in Zehlendorf
       
       Katja Blomberg, die diese Ausstellung in Zusammenarbeit mit der Staatlichen
       Graphischen Sammlung München kuratiert hat – wo es eine Parallelausstellung
       zum „Turm“ geben wird –, sagt am Ende übrigens noch etwas Erstaunliches:
       „Vielleicht“, mutmaßt sie, „hängt das Bild ja noch in irgendeiner
       Zehlendorfer Villa.“
       
       Und dann, mit kokettem Lächeln: „Außerdem wird hier nächstes Jahr saniert.
       Mehr muss ich wohl nicht sagen …“
       
       Auf diese Art werden die Fantasien, die dieses Bild bis heute produziert,
       nicht so schnell versiegen.
       
       3 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Messmer
       
       ## TAGS
       
   DIR Beutekunst
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