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       # taz.de -- Klassikfestival in Sotschi: Lost in Andante
       
       > Unser Autor, dem Russisch und Mozart fremd sind, war zu Gast bei einem
       > Klassikfestival in Sotschi. Dort hat er Bratschen gesehen und Putin
       > verpasst.
       
   IMG Bild: Die Schießbuden gehören zu den wenigen geöffneten Läden
       
       Sotschi taz | Beim Einchecken im Fünfsternehotel fragt mich die Frau an der
       Rezeption, ob ich ein Glas Champagner möchte. „Is it Russian?“, frage ich.
       – „Sure. From Crimea.“ Cheers.
       
       Zweimal schon stand ich direkt an der russischen Grenze, einmal auf der
       Kurischen Nehrung und einmal in der Inneren Mongolei. Jetzt bin ich drin.
       In Sotschi, am Schwarzen Meer. Am Flughafen werde ich zum allerersten Mal
       in meinem Leben mit einem Namensschild empfangen und traue mich nicht,
       davon ein Foto zu machen. Bezahlt hat die Reise das [1][„Winter
       International Arts Festival“], dessen zehnte Ausgabe hier stattfindet.
       
       Warum sie mich eingeladen haben, ist mir schleierhaft, denn ich kann kein
       Wort Russisch und habe von klassischer Musik, Ballett, Oper und was hier
       noch so aufgeführt wird, nicht die geringste Ahnung. Aber immerhin bin ich
       Kulturjournalist und kann im Westen davon berichten, welche hochklassigen
       Künstler aus der ganzen Welt hier auftreten und wie schön es in Russland
       ist, wie gut die Hotels, vermutlich reicht das.
       
       Sotschi ist die 52stgrößte Stadt des Landes, aber sie wird als Schaufenster
       des neuen russischen Reiches aufgebaut, mit Olympischen Winterspielen,
       Formel-Eins-Rennstrecke, Schach-WM und bald auch als Spielort der
       Fußball-WM. Vermutlich haben sie Zehntausende Journalisten eingeladen.
       
       ## Ein Meer wie eine Kulisse
       
       Das Fünfsternehotel hat einen beheizten Außenpool mit Meerblick, eine
       Infrarotsauna, eine Eierköchin im Frühstücksrestaurant und einen eigenen
       Strand. Im Zimmer sind die Lichtschalter kleine Konsolen mit vier
       Einstellungsmöglichkeiten, die sich in den Ursprungszustand versetzen
       lassen, wenn man die Zimmertür auf die richtige Weise öffnet und schließt.
       Bevor ich schlafen gehe, brauche ich fünf Minuten, um die
       Waschbeckenunterbeleuchtung auszukriegen.
       
       Die Zeit bis zum Konzert verbringe ich am Schwarzen Meer. Mit dem Meer fing
       hier alles an, es lockte Bade- und Kurgäste. Sechs Millionen im Jahr kamen
       zu Sowjetzeiten, vier Millionen sind es heute noch, fast nur Russen.
       Sotschi verspricht Glamour. Es ist mit 156 Kilometern der längste Kurort
       der Welt, gelegen an der Kaukasischen Riviera auf dem gleichen Breitengrad
       wie Nizza. Partnerstädte unter anderem: Rimini und Baden-Baden. Schon
       Stalin hatte hier ein Urlaubshäuschen.
       
       Im Februar aber herrscht die gedämpfte Stimmung eines jedes verlassenen
       Sommerferienorts. Leere Straßen. Ein paar streunende Katzen, überraschend
       gutes Fell. Nicht mal Fischerboote oder Frachter. Eine Frau begeistert
       ihren Enkel damit, Tauben beim Füttern auf ihren Armen landen zu lassen.
       Zwei Jungs machen ein Selfie. Hier und da wird etwas repariert, schweißt
       jemand, wird ein Bürgersteig ausgebessert. Aber es macht nicht den
       Eindruck, als wäre im Sommer noch alles heile gewesen oder würde es im
       nächsten sein.
       
       An den Stränden, die aus vielen grauen Steinen bestehen, liegen verrostete
       kleine Treppen herum. Und dahinter das Schwarze Meer, mit dem etwas seltsam
       ist: Es sieht aus wie ein Meer, und es hört sich an wie ein Meer. Aber es
       riecht nicht nach Meer, und es fehlt auch der harte auflandige Wind, den
       man etwa vom Atlantik kennt. Das Schwarze Meer ist wie eine Kulisse, genau
       wie der unvermittelt aufsteigende Kaukasus auf der anderen Seite der Stadt.
       
       ## Eisbär, Leopard und Hase
       
       Geöffnet haben an der Uferpromenade ein paar Restaurants, öffentliche
       Toiletten, vor denen alte Frauen sitzen, Schießbuden, in denen junge Frauen
       sitzen und riesige Teddybären, außerdem Klamottenläden. Ein beliebtes Motiv
       zeigt Eisbär, Leopard und Hase, die drei olympischen Maskottchen, unter dem
       Slogan „Sochi 2014 – City of the Future“. Und dauernd schaut mich Juri
       Baschmet an. Er ist der künstlerische Leiter des Winter Arts Festival,
       einer der wichtigsten Bratschisten der Welt, als Dirigent hat er mit seinen
       Moskauer Solisten 2008 einen Grammy gewonnen.
       
       Juri Baschmet war auch Fackelläufer vor den Olympischen Winterspielen und
       hat 2014 mit 500 anderen russischen Kulturschaffenden einen offenen Brief
       unterschrieben, der Putins Krimpolitik unterstützt. Er ist der Posterboy
       des Winter-Festivals. Der Maestro.
       
       Ю́рий Башме́т. Jurij Baschmet. Das kyrillische Alphabet hatte ich vor 15
       Jahren mal gelernt, und es braucht nicht mehr als eine Stunde Lektüre des
       Kommersant im Aeroflot-Flugzeug, um es, bis auf einige Feinheiten, wieder
       hochzuholen. Ich entwickele eine große Begeisterung dafür, alle Schilder,
       Aushänge, Straßennamen, Verpackungs- und Tankstellenbeschriftungen zu
       entziffern und freue mich, wenn verständliche Worte herauskommen.
       Минимаркет:Minimarket, Санаторий Авангард:Sanatorij Awangard,
       Пансионат:Pansionat.
       
       Die gesprochene Sprache bleibt mir hingegen verschlossen, ich kann mich
       absolut nicht verständigen. Umgekehrt kann fast niemand Englisch, auch
       nicht die Garderobieren im Wintertheater, die mir Dinge sagen, als sie
       meine Jacke nehmen. Immerhin kann ich ihre Namen lesen, Натальяheißt eine.
       Natalja. Eine andere vermietet winzige goldene Operngläser, und neben den
       Toiletten hängt ein Parfümautomat. Es ist zwei Minuten vor
       Vorstellungsbeginn und in der kleinen Bar bestellen sich die Menschen neue
       Getränke.
       
       Ich sitze nur wenige Meter neben dem Platz, auf dem am Vortag Wladimir
       Putin saß. Er war wirklich da! Es ist nicht ganz ausverkauft und riecht
       unerklärlicherweise ein wenig nach Popcorn. Dann kommt Juri Baschmet
       herein, ein kleiner, geschäftiger Mann. Mit seinem beinahe knielangen
       schwarzen Hemd und dem großen Medaillon an der goldenen Halskette sieht er
       aus wie ein New-Age-Guru.
       
       Genau drei Frauen spielen in seinem Orchester, sie haben verschiedenfarbige
       Kleider an. Die Männer hingegen sind alle gleich gekleidet, schwarzes Hemd,
       schwarze Anzughose. Wie Fußballer können sie sich nur über ihre Schuhe
       distinguieren, wobei sie die Varianten mattschwarz und glänzendschwarz zur
       Auswahl haben.
       
       Kurze Verbeugung, und es wird losgespielt. Und auf einmal bin ich in
       Oldenburg, im Wohnzimmer hat sich meine Mutter zum Nachmittagsschlaf unter
       ihre dunkelblaue Decke gelegt und Mozart angemacht, die Ouvertüre der
       „Hochzeit des Figaro“. Den Namen des Stücks muss ich natürlich im
       Programmheft nachlesen, und wenn mir die anderen Journalisten nicht helfen
       würden, hätte ich auch nicht gewusst, dass sie das erste und letzte Stück
       des Abends getauscht haben.
       
       ## Mozart, untenrum frei
       
       Fünf Minuten dauert das, Applaus, danach gibt es erst mal Blumen und eine
       russische Rede vom Bürgermeister. Ich verstehe nur „Putin“, mehrfach
       „Sotschi“ und „Abramawitsch“. Baschmet antwortet, dieses Mal verstehe ich
       „Germanija“ und „Schubert“.
       
       Im Laufe des Abends treten mehrere internationale Solisten gemeinsam mit
       dem Orchester auf, auf deren internationale Auszeichnungen das
       Programmheft besonders hinweist. Es gibt einen aus dem Orchester, der den
       Roadie macht, der die Notenständer für die Solisten hinstellt, den
       Klavierdeckel zumacht und so weiter. Ich frage mich, wie der wohl bestimmt
       wird. Ist er der Neue? Oder geht das reihum, wie so Putzdienst in einer WG?
       
       Vier Bläser spielen ein Konzert, das ich prototypisch für Mozart halte:
       alles so verspielt und vertüdelt, neckisch, immer hier noch ein Kringel und
       da noch ein Hupferl. Ich stelle mir vor, dass Mozart die Partitur
       komponiert hat, während eine seiner hundert Geliebten da ist, und er
       springt ab und zu auf und schreibt Noten auf einen Zettel, untenrum frei,
       aber mit Perücke auf.
       
       Massimo Quarta, ein Italiener, der so klassisch aussieht, wie man sich
       einen klassischen Musiker nur wünschen kann, mit grauen Haaren, Anzug und
       Fliege, spielt ein dramatisches Stück von Paganini und guckt superernst
       dabei. Die Geige klingt metallisch und nicht so rund wie das Orchester.
       
       Nach der Pause steht ein Flügel auf der Bühne. Davor ein Finne: Olli
       Mustonen. „Seine expressiven Interpretationen zeichnen sich durch heftige
       Ausbrüche und empfindsame Verhaltenheit aus“, steht über ihn im Internet.
       Das passt, er schaut während des gesamten Stücks unheimlich ergriffen, mal
       beseelt, mal leidend, und er macht Sachen mit seinen Händen, wenn er
       spielt, oder eigentlich: in dem Moment, in dem er sie von den Tasten nimmt.
       Es sieht aus, wie wenn man eine Marionettenpuppe bewegt, damit das Publikum
       aus dreijährigen Kindern versteht: Die-se Pup-pe spielt Kla-vier.
       
       ## Das Notenblatt fällt
       
       Ich bin fasziniert vom Aufwand des Notenumblätterns. Was da alles
       schiefgehen kann! Man hat zu trockene Finger für die Seite, oder nimmt zwei
       Seiten, oder alles fällt runter oder, oder!
       
       Einmal dann spielt der Maestro selbst, Bratsche natürlich, in meinen Ohren
       etwas schief, aber ich habe ja keine Ahnung: Ist das „ein meisterhaftes
       Spiel der Dissonanzen, eine Offenbarung in Adagio“ oder „Juri Baschmet
       hatte einen schlechten Tag“? Der vorher so sanfte und gefällige Mozart, war
       er gut gespielt oder würden Kritiker es als „Biedermeier-Interpretation,
       vom Blatt gespielt, ohne eigenen Zugang“ bewerten? Es gibt jedenfalls
       frenetischen Applaus, und viele Frauen rufen „Bravo“, aber nicht sehr
       lange.
       
       Am Ende noch Mozarts 40. Symphonie, das Ganze geht jetzt seit fast drei
       Stunden, es reicht auch mal, und dann passiert es: Dem Kontrabassisten,
       einem Zwei-Meter-Mann mit der Frisur und dem Gesicht des jungen Bill
       Murray, fällt tatsächlich ein Notenblatt herunter. Er nutzt Spielpausen, um
       es mit dem Fuß wieder ranzuholen und auf den Notenständer zu legen. Danach
       knarzt die linke Saite seines Basses.
       
       Beim Sponsorendinner im Ballsaal des Fünfsternehotels höre ich mir die
       Meinungen der klassikbewanderten Mitjournalisten an. Konsens – wenn auch
       nur an diesem Abend: ein enttäuschendes Programm. Mozart, Paganini, Brahms,
       das sind Klassiker für jedermann, ein Greatest-Hits-Gemischtwarenladen,
       doch ist keine künstlerische Richtung, keine Botschaft erkennbar.
       
       Geradezu peinlich war, dass der Flügel nach dem Klavierkonzert nicht von
       der Bühne geschoben wurde. Auseinander gehen die Meinungen über die
       technische Ausführung des Orchesters und über Olli Mustonen, der, immerhin,
       über jeden Verdacht der Gefälligkeit erhaben ist.
       
       Am Morgen des nächsten Tages fahren wir nach Adler, wo das Olympiagelände
       ist. Unser Reiseführer Alexei entschuldigt sich für sein schlechtes
       Englisch und schwärmt die meiste Zeit der Tour davon, wie schön Abchasien
       sei und dass wir wiederkommen sollen, damit wir mit ihm nach Abchasien
       fahren können.
       
       Abchasien gehört zu Georgien, jedenfalls offiziell, aber es ist leichter,
       von Russland aus dorthin zu kommen, als aus Georgien. Auf dem
       Olympiagelände selbst liest Alexei einfach den ausgedruckten englischen
       Wikipedia-Artikel vor. So erfahren wir viermal, wie die Arenen heißen,
       wofür sie bei Olympia zuständig waren und wie viele Leute Platz in ihnen
       finden. Auch an die Grenze fahren wir: ein Zaun, der bis ins Schwarze Meer
       reicht, dahinter die abchasischen Berge. Der Kaukasus. So schön!
       
       Es ist wieder komplett windstill und auf einmal mild wie im Frühling. So
       sieht es also von der anderen Seite aus.
       
       4 Mar 2017
       
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