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       # taz.de -- Deniz Yücel im Hochsicherheitsgefängnis: Er kann dort Freunde finden
       
       > Unsere Autorin kennt zum ersten Mal jemanden, der im Gefängnis sitzt:
       > Deniz Yücel, ihr Freund. Er lacht, also versucht sie es auch.
       
   IMG Bild: Egal, ob es ihm im neuen Gefängnis besser geht: Freiheit ist immer noch das Beste
       
       Istanbul taz | Am Dienstag früh schiebt sich dichter Nebel über den
       Bosporus. Schiffe, Flugzeuge, Autos und Fußgänger hindert er daran, sich
       frei zu bewegen. Am Montagabend gegen 22.30 Uhr, kurz bevor der Nebel kam,
       entschied der Haftrichter Mustafa Cakar im Justizpalast von Istanbul, dass
       Deniz sich nicht mehr frei bewegen darf. Der Türkei-Korrespondent der Welt
       sei zur Untersuchungshaft in das Gefängnis Metris zu überstellen.
       Begründung: Volksverhetzung und Verbreitung von Terrorpropaganda.
       
       Für einen Moment, als die Nachricht per SMS von den Anwälten kam, war es
       eiskalt. Um mich herum erstarrte Gesichter, Schluchzen, Sprachlosigkeit. Es
       war eine Entscheidung, mit der wir, die seit 13.30 Uhr in dem hässlichen,
       riesigen Marmormonster, das mit 326 Gerichtssälen der größte Justizpalast,
       wo gibt, sein soll, nicht mehr gerechnet hatten.
       
       Wir, das sind deutsche und türkische Freunde, Journalisten türkischer und
       deutscher Medien, der deutsche Generalkonsul in Istanbul, Abgeordnete der
       Oppositionspartei CHP und die Freundin eines jungen türkischen
       Journalisten, der seit über zwei Monaten in U-Haft sitzt.
       
       Wir konnten nicht glauben, dass es einen Richter gibt, der die absurden
       Vorwürfe ernst nehmen würde. Selbst als wir den Namen des Haftrichters
       erfuhren und uns Kollegen von der Cumhurriyet sagten, dass der Mann bereits
       zehn ihrer Kollegen in U-Haft gesteckt hatte. Wir glaubten weiter daran,
       dass sie sich das bei Deniz nicht trauen würden. Auch die türkischen
       Kollegen. Bei all dem Rückhalt durch die deutsche Bundesregierung und die
       deutsche Öffentlichkeit, hielten auch sie es für hochwahrscheinlich, dass
       man Deniz gehen lassen würde.
       
       Den ganzen Tag über hatten wir uns bei jedem kleinen Zeichen eingeredet,
       dass sie es nicht wagen würden. Die Zeichen, das waren die sympathischen
       und über ihre Pflichten hinaus engagierten jungen Anwälte von Deniz, die
       bei den Vernehmungen dabei waren und uns mitteilten, dass Deniz nur zu
       seinen publizierten Texten in der Welt befragt wurde; die uns mitteilten,
       dass der Richter zehn Minuten lang ernsthaft über einen Witz geredet hatte,
       der am Ende als richterliche Begründung diente, um Deniz wegen
       Volksverhetzung zu verhaften.
       
       Es waren die freundlichen Polizisten, die Deniz aus dem Gewahrsam im
       Polizeipräsidium in den Justizpalast geführt hatten und uns ein paar
       Minuten nicht daran hinderten, ihn vor dem Büro des Staatsanwalts zu
       umarmen, zu fragen, wie es ihm geht. Es waren die Oppositionspolitiker, die
       uns sagten, dass die Vernehmungen einer Comedy-Veranstaltung glichen.
       
       ## Foto eines toten Freundes
       
       Es waren die Sicherheitsbeamten des Palastes, die uns nicht des Platzes
       verwiesen, obwohl wir ganze Treppenstufen mit unseren Sachen, Kaffee- und
       Teebechern blockierten. Es war ein freundlicher Sicherheitsbeamter, der uns
       erlaubte, hinter der Absperrung vor dem Gerichtssaal im 6. Stock die
       Toilette zu benutzen und der uns auf seinem Handy Fotos seines besten
       Freundes zeigte, der bei dem Anschlag auf den Istanbuler Club Reina in der
       Silvesternacht ermordet worden war. Es war der höfliche junge Mann, der
       alle 20 Minuten mit seinem Servierwagen vorbeikam und uns Sandwiches,
       Kaffee, Tee und Schokoriegel verkaufte.
       
       Aber wer waren SIE? Wer sind die, die wir nicht zu sehen bekamen und von
       denen wir nicht glaubten, dass sie es wagen würden, Deniz ins Gefängnis zu
       stecken? Der Staatsanwalt stellte den Haftantrag. Aber war er es alleine?
       Der Haftrichter entschied, Deniz ins Gefängnis zu schicken. Hatte er nicht
       wenigstens einen Mann über sich?
       
       Es ist mein erstes Mal. Noch nie kannte ich jemanden, der ins Gefängnis
       muss. Wenn ich an Menschen im Gefängnis denke, denke ich an Dostojewski, an
       Gramsci und an Deniz’ Lieblingsfilm, Good Fellas, und ich denke an Deniz,
       wie er in den 90er Jahren von Freunden und Bekannten, von Aktivisten,
       Journalisten, Literaten, Dichtern erzählte, die in der Türkei im Gefängnis
       saßen.
       
       ## Vorm Gefängnistor
       
       Jetzt stehe ich vor verschlossenen Gefängnistoren, hinter denen der Mensch
       sitzt, den ich seit 30 Jahren kenne, der mein bester Freund ist, der
       einzige Mensch, von dem ich mir immer sicher war, dass er immer da sein
       würde und dessen Humor ich noch mehr vermisse als seine Texte und seine
       politischen Urteile. Alle möglichen deutschen Medien rufen an, wollen
       Interviews, ich gebe eins nach dem anderen. Darf ich das? Muss ich das? Ist
       das gut oder schlecht? Ich weiß es nicht. Ich mache es einfach. Alle sollen
       wissen, was hier los ist. Die Journalisten fragen immer, ob ich als
       Journalistin oder als Freundin angekündigt werden will. „Beides“, sage ich.
       
       Am Mittwoch fahre ich mit dem Anwalt zum Gefängnis Metris, etwa 20 Minuten
       vom historischen Zentrum Istanbuls mit dem Auto. Überall riesige
       Betonbauten, die in Hässlichkeit und Größe dem Justizpalast noch
       übertreffen. Wir biegen ab. Auf der linken Seite der Straße abgeranzte
       Cafés, Autowerkstätten, es wirkt wie eine typische Gegend hinter Bahnhöfen,
       wo illegal Drogen und Autos verkauft werden und abgefuckte Typen in
       Lederjacken auf irgendwas warten. Auf der rechten Seite Wachtürme mit
       Soldaten, die Maschinengewehre in der Hand halten, Stacheldraht auf einer
       bröckelnden Mauer, dahinter zwei flache, verfallende, dreckighellbraunrosa
       Gebäude mit wenigen vergitterten Minifenstern.
       
       Es erinnert mich an eines der staubigen Gefängnisse im Nahen Osten aus der
       TV-Serie „Homeland“. Deniz’ Anwalt und ich steigen aus dem Auto. In einem
       kleinen Turm geht ein kleines Gitterfenster auf, es ist niemand zu sehen,
       außer einer Hand, die aggressiv winkt und uns bedeutet, wir sollen vom
       Eingang verschwinden. Ich darf nicht mit rein. Niemand darf rein. Nur der
       Anwalt, für eine Stunde.
       
       Auf der Fahrt hierher hatte er erzählt, dass er Knastgeruch nicht mag. Es
       sei ein bestimmter Geruch, der überall gleich sei. Und dass er hoffe, Deniz
       würde heute in das Hochsicherheitsgefängnis von Silivri überstellt. Dort
       seien die Konditionen wesentlich besser. Das Gefängnis moderner. Mit der
       seltsamen Information, dass es Deniz in einem Hochsicherheitsgefängnis
       besser gehen soll, muss man erst mal zurechtkommen.
       Hochsicherheitsgefängnis. Wie sich das anhört. Ist das nicht der Horror?
       
       Für die türkischen Freunde und Kollegen nicht. Sie kennen das Gefängnis
       sehr gut. Viele ihrer Kollegen und Freunde sitzen dort. „Er kann dort
       immerhin Freunde finden“, sagen sie. Es verging allein in dieser Woche, in
       der ich hier bin, kein Tag ohne Meldung über die Festnahme oder
       Verurteilung von Journalisten, Oppositionspolitikern, Sängerinnen, denen
       ähnliche und noch absurdere Vorwürfe wie Deniz gemacht werden. Und es
       werden schon Witze darüber gemacht: „In Silivri sitzt das Istanbul, das es
       nicht mehr gibt. Dort triffst du mehr Journalisten und Intellektuelle als
       in der Innenstadt.“
       
       ## Deniz war schon mal hier
       
       Auch Deniz ist nun nicht mehr in Beşiktaş, sondern in Silivri. Ein
       Gefängnis, in dem zwischen 10.000 und 13.000 Menschen inhaftiert sind,
       darunter der prominente Investigativjournalist Ahmet Şık, 10
       Cumhuriyet-Redakteure, der Chefredakteur der geschlossenen Zeitung Taraf,
       Mehmet Altan, und die HDP-Abgeordnete Meral Danış Beştaş. Besuch darf Deniz
       auch hier erst mal nicht bekommen. Ich will trotzdem hin und fahre am
       Donnerstag mit einem Freund. Deniz war schon mal hier.
       
       Als ich ihn zum Jahreswechsel 2015/2016 in Istanbul besuchte, saß gerade
       der Chefredakteur von Cumhuriyet, Can Dündar, im Gefängnis von Silivri, und
       Deniz übernahm, wie viele andere Journalisten auch, einen Tag lang den Job,
       Mahnwache vor dem Eingang des Gefängnisses zu halten. Fast zwei Stunden
       braucht man mit dem Auto dorthin.
       
       Silivri liegt am Marmarameer, 80 Kilometer außerhalb des Stadtzentrums von
       Istanbul, das Gefängnis nochmal 10 Kilometer davon entfernt. Wir verfahren
       uns, hoppeln über eine Sandpiste durch ein weites leeres Feld, rechts das
       Meer. Plötzlich so etwas wie ein Wachturm. Da ist es. Es ist riesig. Wir
       fahren zum Haupteingang, „Campus der Strafvollzugsanstalten Silivri“ steht
       da drüber. Es ist kalt, ein eisiger Wind bläst. Ein paar Autos stehen auf
       einem dreckigen, geschotterten Parkplatz. In einigen sitzen Familien,
       warten offenbar auf Angehörige.
       
       ## Es ist absurd
       
       Vor einem kleinen Bauwagen stehen etwa 20 junge Männer in dunklen Klamotten
       rum, sie reden nicht, sondern verständigen sich hektisch, aber gekonnt über
       Zeichensprache. Es beginnt schon zu dämmern und die Flutlichter entlang des
       Stacheldrahtzauns gehen an, aus einem kleinen Lautsprecher am Gerichtssaal
       vor dem Eingang ruft der Muezzin.
       
       Wie es jetzt weitergeht, fragen mich die deutschen Journalisten immer.
       Deniz hat in einer Notiz geschrieben, dass er über sein Verhör und seine
       Situation immer noch lachen kann. Weil es so absurd ist. Auch ich lache
       darüber. Das reicht alleine nicht. Aber es hilft.
       
       3 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Doris Akrap
       
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