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       # taz.de -- Fünf Liebeserklärungen an Soulfood: Essen, das keine Fragen stellt
       
       > Die Welt wird immer komplizierter, heißt es. Doch Omas Kartoffeln,
       > tröstender Geflügelsalat und der Leberkäse aus der Kindheit bleiben. Sie
       > sind da, wie gute Freunde.
       
   IMG Bild: Hm, lecker!
       
       Die Welt spielt verrückt. Es ist immer noch kalt. Was hilft da? Bettdecke
       über den Kopf. Oder: Essen. Jeder hat sein persönliches Soulfood. Das ist
       Essen, das uns glücklich macht. Das wie ein vertrauter Bekannter ist, wie
       ein großer, weicher Bobtail, in den man sich reinkuscheln kann, wenn alles
       andere zu kompliziert und scheiße ist. Essen, das keine Fragen stellt und
       auf das man sich verlassen kann, weil es immer gelingt und immer gut
       schmeckt. Hier sind fünf dieser Mahlzeiten. 
       
       Tröstender Geflügelsalat 
       
       Die Wohnung dunkel und leer, niemand da, die Stadt fremd. Doch da war, beim
       abendlichen Nachhausekommen, die Gewissheit, im Kühlschrank würde eine
       Portion Geflügelsalat warten und alles auffangen. Stückchen vom Huhn, in
       der Südseevariante mit Ananas- und Mandarinenbeigabe, in der Metzgerfassung
       deftiger, mit Pilzen. Alles nicht sichtbar, weil in reichlich cremeweißer
       Soße versenkt, in jedem Falle aber: geschmeidig, tröstend, satt machend.
       Ein Huhn – wahrscheinlich Ställe voller Hühner, denn dieser Salat wurde in
       Massen hergestellt – musste dafür sterben, aber das war nun einmal so.
       Scheibe Toastbrot dazu, leicht angeröstet, serviert ohne viel
       Schnickschnack. Das schlichte, gute Mahl.
       
       Was nur ist die Psychologie hinter dieser Leidenschaft? Geflügelsalat,
       darauf wies ein kluger Kollege hin, wurde in der currygelben Variante als
       „Coronation Chicken“ auch zur Krönung von Elisabeth II. gereicht.
       Vielleicht lief das immer unbewusst mit: Das Leben kann noch so fragil
       sein, die Wohnung noch so trist und leer, die Weltlage prekär, mit
       Geflügelsalat holst du dir Glanz ins Haus, Weltläufigkeit, Herrschaft über
       niemanden, aber, viel besser: über die Situation. Vielleicht ist es auch
       einfacher ohne royalen Überbau: Kühlschranktür auf, Packung raus, Salat
       aufs Brot, fertig. Einfach, weil’s schnell geht und schmeckt.
       
       VON [1][FELIX ZIMMERMANN]
       
       *** 
       
       Kartoffeln und Quark und Oma 
       
       Die Gurke ist ganz wichtig. Sie muss in Streifen in den Quark geraspelt
       werden. Dazu kommen frische Kräuter (tiefgekühlt nur im Notfall), zu
       gleichen Teilen Magerquark und Naturjoghurt. Klar, und die Kartoffeln
       müssen mehlig kochende sein – dann ist das Essen perfekt.
       
       Kartoffeln und Quark: immer gut, immer unkompliziert und da, seit ich
       denken kann. Als ich Kind war, war es das typische Sommeressen bei meiner
       Oma, mit einem hart gekochten Ei. Die Balkontür stand offen, davor ein
       riesiger Kastanienbaum, in dem die Vögel zwitscherten. Das war kein
       romantischer Bauernhof, aber immerhin der Innenhof einer
       Plattenbausiedlung. Einen friedlicheren, sommerlicheren Ort konnte ich mir
       nicht vorstellen.
       
       Oft saß dann die ganze Familie am Tisch, alle liebten dieses Essen, obwohl
       in Thüringen eine Mahlzeit ohne Fleisch eigentlich keine Mahlzeit ist. Der
       Kastanienbaum vor dem Balkon meiner Oma ist heute nicht mehr da, und es
       fehlen ein paar Leute, die früher mit am Tisch saßen. Trotzdem, oder gerade
       deswegen, schmecken Kartoffeln und Quark jedes Mal, wenn ich das heute
       koche, nach Sommer und früher.
       
       VON [2][ANNE FROMM]
       
       ***
       
       Fischstäbchen gab es früher freitags 
       
       Manchmal liegen die Fischstäbchen und die Kühlkissen nebeneinander im
       Gefrierfach. Beide sind für schnelle SOS-Einsätze geeignet. Wenn mich nach
       einem langen Arbeitstag der Hunger überfällt, dann tröstet mich der Anblick
       einer Packung Fisch im Tiefkühlfach. Dann weiß ich, in wenigen Minuten
       steht mein Essen auf dem Tisch. Fischstäbchen gab es früher freitags. Ich
       hatte es vergessen.
       
       Es stimmt überhaupt nicht, dass in Fischstäbchen nur Reste verarbeitet
       werden. Und es gibt Situationen, da ist es völlig egal, dass die Panade zu
       dick ist und das Essen vorfrittiert. Schließlich steckt Fischfilet drin.
       Die Backzeit kann ja für die Zubereitung von etwas sehr Gesundem wie Salat
       mit frischer Ingwersoße genutzt werden. Also: Den Ofen 5 Minuten bei 220
       Grad vorheizen, Fischstäbchen aufs Backblech, die Uhr auf 10 Minuten
       stellen, dann wenden, und nach weiteren 5 Minuten dampft das Essen.
       
       Die Nachbarjungen haben sich Fischstäbchen gewünscht, mit Pommes, ja klar,
       und mich wieder darauf gebracht. Sie kabbeln sich darüber, wer wie viele
       Stäbchen hat, genau wie ich früher mit meinen Geschwistern. Mein gereizter
       Magen entspannt sich. Das ist der heilende Geschmack von Kindheit.
       
       VON [3][PETRA SCHROTT]
       
       ***
       
       Leberkäse holte uns auf den Boden zurück 
       
       Auf die untere Seite der Semmel muss ganz viel Senf. Süßer Senf natürlich,
       Weißwurstsenf. Das hat Frau Tabbertshofer uns beigebracht. Sie stand selbst
       am Tresen, wenn wir um kurz nach eins, kurz nach Englisch, kurz vor Sport,
       beim Fleisch Schlange standen. Damals hießen Supermärkte noch
       Tabbertshofer, Heinrich oder Niederhuber, zwar schon Blau auf Gelb, aber
       das „Edeka“-Zeichen prangte nur klein neben dem Familiennamen.
       
       Und natürlich stand die Chefin höchstpersönlich beim Fleisch und löffelte
       den süßen Senf ganz nach ihrem Geschmack aus dem großen Steintopf auf die
       Semmelhälfte. Ausnahmen wurden nicht gemacht. Dafür führte Frau
       Tabbertshofer ein Leberkäsebuch. Wir Schüler konnten direkt bei ihr
       anschreiben, so wie die Maurer und Polizisten, die hier auch anstanden.
       
       Die Leberkässemmel holte uns auf den Boden der Tatsachen zurück, nach der
       Auseinandersetzung mit dem Ablativ, stochastischen Grundformeln und dem
       anhaltenden Scheitern am richtigen Buchstabieren von Ribonukleinsäure. Sehr
       fettig, sehr süß, sehr salzig. Nach jeder gymnasialen Anstrengung, so
       einer, wie für diesen Text, kommt mir eine Leberkässemmel gerade recht.
       
       VON [4][JÖRN KABISCH]
       
       ***
       
       Pesto Rosso muss unansehnlich sein 
       
       „Ich habe nichts im Kühlschrank“ ist ein Satz, der mir Menschen sympathisch
       macht. Ich wittere dann viel Laisser-faire. Man ist nicht recht vom Bett
       hochgekommen, hat zu lange gelesen oder Serien geschaut, um es noch zu
       Supermarktöffnungszeiten aus dem Haus zu schaffen. Außerdem mag man ja
       meistens Leute, die einen spiegeln, und na ja, ich habe öfter nichts im
       Kühlschrank.
       
       Was ich immer habe, ist eine Notration Glück: Pesto von Buitoni. Es muss
       rot sein und so unansehnlich, wie es durchs Glas schimmert, krümelig,
       braunstichig – wie zu reif gewordene Tomaten. Das Öl obendrauf darf man auf
       keinen Fall abkippen. Man muss es einrühren, damit der untere Bereich
       ausreichend befeuchtet wird. Erst mit sauber verteiltem Fett gehen
       Dextrose, Zitronensäure und Glukosesirup das richtige Verhältnis ein.
       
       Pasta ist zu diesem Pesto von Vorteil, aber kein Muss. Brot geht auch,
       sofern vorhanden. Umso besser, wenn nicht: Ich stelle mir jetzt vor, wie
       Sie, liebe Leserinnen und Leser, rote Masse auf Ihre Löffel laden und dann
       alles zusammen schmecken, Knoblauch, Schärfe, Pinienkerne und einen Schuss
       Maggi. Selig schauen Sie in Ihren leeren Kühlschrank und auf die Unordnung
       in Ihrer Wohnung; schon wieder echt spät. Sie stellen Billy Idol an, weil
       das der Achtziger-Jahre-Schriftzug „Pesto Rosso“ so will, und beginnen zu
       tanzen.
       
       VON [5][ANNABELLE SEUBERT]
       
       5 Mar 2017
       
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