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       # taz.de -- Südafrikas junge Generation: „Wie kannst du mich frei nennen?“
       
       > Die ersten Kinder, die nach dem Ende der Apartheid geboren wurden, werden
       > volljährig. Sonwabiso Ngcowa hat über die vermeintlich freie Generation
       > geschrieben.
       
   IMG Bild: Schön wie diese Models sollte das Leben nach der Apartheid werden – die Realität für Südafrikas Jugend sieht anders aus
       
       taz: Herr Ngcowa, Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel „Südafrika
       mit 21“. Was ist so spannend an 21-jährigen Südafrikanern, dass Sie dieser
       Generation gleich ein ganzes Buch widmen? 
       
       Sonwabiso Ngcowa: Die Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen, sind
       alle im Jahr 1994 geboren. Das Jahr des Wandels in Südafrika. 1994 wurden
       erstmals demokratische Wahlen in meinem Land abgehalten. Es ist das Jahr,
       in dem die Verfassung geändert und jedem Südafrikaner die gleichen Rechte
       eingeräumt wurden. Unabhängig von Hautfarbe und Geschlecht. Die jungen
       Leute, die in diesem Buch ihre Geschichte erzählen, sind also die erste
       freie Generation Südafrikas. Sie sind „Born frees“. Wir wollten schauen:
       Was heißt das eigentlich? Was bedeutet Gleichberechtigung für diese
       Generation? Wo stehen sie in ihrem Leben? Mit unserem Buch wollten wir
       überprüfen, ob das Versprechen von Gleichheit und Freiheit erfüllt wurde.
       
       Sie sprechen von „wir“. Ihre Koautorin ist die ANC-Politikerin und
       Nelson-Mandela-Vertraute Melanie Verwoerd. Wie kam es zu dieser
       Zusammenarbeit? 
       
       Melanie Verwoerd kam auf mich zu. Wir trafen uns auf einer Buchvorstellung
       in Kapstadt. Ein paar Tage später bekam ich eine E-Mail von ihr. Sie fragte
       mich, ob ich mit ihr zusammen an diesem Projekt arbeiten möchte. Das war
       der Anfang.
       
       In Ihrem Buch sammeln Sie 21 Stimmen aus dem heutigen Südafrika. Sie haben
       mit weißen Afrikaanern gesprochen, mit schwarzen lesbischen Rapperinnen und
       mit jungen Müttern aus den [1][Townships]. Wie haben Sie diese Menschen
       gefunden? 
       
       Über Leute, die wiederum anderen Leuten erzählt haben, was und wen wir
       suchen. Und natürlich über soziale Medien. So verbreitete sich schnell,
       dass wir auf der Suche nach 21-Jährigen sind, die uns ihre Geschichten
       erzählen. Wir bekamen Anrufe von Leuten, die sagten: „Meine Cousine ist
       1994 geboren“ oder „Mein Nachbar ist gerade 21 geworden. Ruf doch mal an.“
       Zwei Protagonisten wurden uns von Organisationen vermittelt.
       
       Welche Geschichte, welcher dieser jungen Menschen hat Sie am meisten
       beeindruckt? 
       
       Es gibt da einen jungen Mann, den ich in Port Elizabeth traf. In der Woche
       vor unserem Gespräch hatte er versucht sich umzubringen. Das verunsicherte
       mich, denn ich bin kein Sozialarbeiter. Was sagst du einem Menschen, der zu
       dir sagt: Ich weiß nicht, warum ich am Leben bleiben soll? Er erzählte mir
       von dem Hass auf seinen Vater. Vom täglichen Hunger. Von seiner
       Machtlosigkeit. Wie geht man nach so einer Geschichte nach Hause? Das hat
       mich sehr berührt. Eine andere Geschichte, die mich nicht loslässt, ist die
       einer jungen Frau aus Kapstadt. Sie wuchs bei ihrer Tante auf, in einer
       riesigen Familie. Nie hatte jemand Zeit für sie, nie wurde sie je beachtet.
       Bis sie 14 Jahre alt war, hatte nie jemand zu ihr gesagt: Ich liebe dich.
       Ihr erster Freund war älter als sie. Eines Abends erwischt sie ihn mit
       einer anderen Frau. Am Ende des Tages saß sie wegen Mordes im Gefängnis.
       
       Enttäuscht vom Leben, hungrig oder im Gefängnis. Ist das tatsächlich die
       Realität einer ganzen Generation? 
       
       Natürlich gibt es auch schöne Geschichten in unserem Buch. Wir haben zum
       Beispiel eine junge Designerin getroffen, die gerade ihr eigenes Business
       startet, einen jungen Mann aus Soweto, der mit einem Streichorchester um
       die Welt tourt und junge Mütter, die trotz aller Widerstände wieder in der
       Schule sitzen. Es ging uns nicht darum, möglichst schlimme Geschichten zu
       erzählen. Wir haben einfach aufgeschrieben, was die Leute uns erzählt
       haben, was sie denken und was für Leben sie führen. Fakt ist, dass viele
       junge Südafrikaner sehr mit dem Leben zu kämpfen haben.
       
       Die „Born frees“ sind also nicht frei? 
       
       Der Ausdruck „Born free“ ist übrigens sehr umstritten in dieser Generation.
       Viele lehnen diesen Begriff total ab. Sie sagen: Wie kannst du mich so
       nennen, wenn ich nichts zu essen habe? Wenn ich nicht auf die Schule meiner
       Wahl gehen kann? Wenn ich mir die Studiengebühren nicht leisten kann? Ich
       bin nicht „frei geboren“.
       
       Sondern? 
       
       Die gesellschaftlichen Unterschiede und Herausforderungen sind noch sehr
       groß in Südafrika. Vor 1994 bestimmte das Gesetz der Apartheid, ob und auf
       welche Schule du gingst. Im Südafrika der Post-Apartheid bestimmt Geld, auf
       welche Schule du gehst. Geld bestimmt auch wo du wohnst, ob du Gewalt
       erfährst, ob du studieren kannst und welchen Job du später machen wirst.
       Der oberen, weißen Elite gehören noch immer 90 Prozent des Gesamtvermögens
       Südafrikas. Vielleicht sind jetzt alle auf dem Papier gleich. Aber die
       Realität der Menschen erzählt etwas anderes.
       
       Es hat sich nach dem Jahr 1994 nichts an der Situation in Südafrika
       verändert? 
       
       Ich kann nicht sagen, dass sich nichts geändert hat. Viele Menschen haben
       für den Wandel gekämpft und natürlich auch etwas erreicht. Es wurden
       Millionen in den sozialen Häuserbau gesteckt. Es gibt Unterstützung für
       arme Familien. Es gibt ein Darlehen für bedürftige Studenten. Aber noch
       immer besuchen nur 17 Prozent der Schwarzen eine Universität. Dafür 50
       Prozent der Weißen. Ein Studienjahr kostet etwa 3.000 bis 5.000 Euro. Das
       ist unglaublich viel für jemanden aus dem Township. Wissen Sie was? 60
       Prozent der Leute, mit denen ich mein Studium angefangen habe, mussten
       abbrechen. 60 Prozent! Nicht weil sie dumm sind, niemand ist dumm, sondern
       weil sie sich das Studium nicht mehr leisten konnten. Dabei gibt es genug
       Geld im Bildungstopf der Regierung. Aber wo bleibt das? Korruption ist ein
       großes Problem.
       
       Gehen die Studenten deswegen seit zwei Jahren auf die Straße? 
       
       Auch. Die ersten Proteste brachen Ende 2014/2015 aus. An der Universität
       Cape Town, an der auch ich studiere. Viele sagten damals: Jetzt haben wir
       es bis hierher geschafft, aber wir werden von Professoren unterrichtet, die
       unseren kulturellen Hintergrund nicht verstehen. Wir werden in einer
       Sprache unterrichtet, die nicht unsere ist. Meine Muttersprache ist
       isiXhosa. Englisch musste ich erst lernen. Wie so viele andere auch. Was
       wäre, wenn die Prüfungen in isiXhosa abgehalten würden? Welche Auswirkung
       hätte das auf unsere Noten? Es ging um Dekolonialisierung der
       Institutionen. Im Jahr danach kam „Fees must Fall“ dazu.
       
       Dabei geht es um die Studiengebühren. 
       
       Im letzten Jahr kündigte die Regierung an, die Studiengebühren um 8 Prozent
       zu erhöhen. Ich habe bereits erklärt, wie schwierig diese Gebühren für
       viele Studenten sind. Wir lehnen diese Gebühren ab. Wir wollen, dass jeder
       studieren kann. Unabhängig von seiner sozialen Herkunft.
       
       Die Proteste wurden gewalttätig. Bibliotheken brannten ab, ganze
       Universitäten mussten ihren Betrieb einstellen. Ist das noch
       gerechtfertigt? 
       
       Wir Studenten sind geteilt. Es gibt die, die sagen: Ich mache alles, um
       gehört zu werden. Und es gibt die, die sagen: Gewalt hilft nicht. Wir
       finden einen anderen Weg. Zu denen gehöre ich. Interessanterweise hat
       diesmal die Gewalt gesiegt: Die Regierung hat nun eine Kommission
       eingesetzt, die untersuchen soll, ob die Studiengebühren abgeschafft werden
       können. Ich habe das Gefühl, die Regierung lernt nicht dazu. Eigentlich ist
       immer noch alles so wie beim Schüleraufstand 1976 in Soweto. Wir
       marschieren friedlich, und niemand hört uns zu. Dann kippen die Protest in
       Gewalt um, und die Regierung sagt: Oh, okay. Das ist frustrierend.
       
       Was meinen Sie, wie geht es für die „Born frees“ weiter? 
       
       Viele der Jungen sind sehr enttäuscht vom [2][ANC], der südafrikanischen
       Befreiungsbewegung Nelson Mandelas. Sie fühlen sich vom System ignoriert
       und fordern Gleichheit. Und zwar jetzt und nicht erst für die nächste
       Generation. Sie wollen radikale Änderungen. Das was an den Universitäten
       passiert, ist ja nur Teil eines größeren Problems. Sollte die jetzige
       Regierung nicht auf diese Forderungen eingehen, könnte sie bei den nächsten
       Wahlen verlieren. Aber vielleicht auch nicht. Das politische System
       Südafrikas ist nicht sehr vorhersehbar. Ich hätte niemals gedacht, dass
       Jacob Zuma Präsident wird. Immerhin wird gegen ihn ermittelt, und trotzdem
       sitzt er jetzt im Amt.
       
       9 Mar 2017
       
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