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       # taz.de -- Literaturfestival Lit.Cologne: Dunkle Zwillinge, liebende Mütter
       
       > Romane wie beste Freundinnen: Fatma Aydemir, Tijan Sila und Takis Würger
       > lesen für den Debütpreis der Lit.Cologne um die Wette.
       
   IMG Bild: Fatma Aydemir, Tijan Sila, Moderatorin Monika Schärer und Takis Würger (v.l.n.r)
       
       Mädchen weinen und Jungs weinen. Männer und Frauen weinen. Nicht der Roman
       von Takis Würger hat das Publikum im Kölner Schauspielhaus derart emotional
       ergriffen, sondern die Rede seiner Mutter. Liebevoll spricht sie über das
       Buch, über ihren Sohn, ihre Gefühle. „Ein Roman über die Liebe“ sei „Der
       Club“. Über die Liebe zu Mutter und Vater, aber auch über die Liebe zu
       einer Frau, der Würger sein Buch gewidmet und die er verloren habe. Nur
       Andeutungen sind es. Sie genügen für den emotionalen Höhepunkt des Abends.
       
       Takis Würger ist einer der drei Autoren, die für den Debütpreis der
       Lit.Cologne nominiert sind. Das Konzept des Preises, der bislang
       Silberschweinpreis hieß und zum siebten Mal verliehen wird, verspricht
       kurzweilige Unterhaltung.
       
       Die drei Autoren stellen sich in drei Disziplinen dem Publikum. Zehn
       Minuten lesen, zehn Minuten Interview mit Moderatorin Monika Schärer und
       der „Freundschaftsdienst“. Ein frei gewählter Dritter kann für den Autor
       werben. Zum Schluss stimmen die etwa 450 Zuschauer per Stimmzettel ab, wer
       das silberne Sparschwein gefüllt mit 2.222 Euro erhält.
       
       Und eigentlich ist schon nach dem „Freundschaftsdienst“ von Würgers Mutter
       klar, dass er kaum zu schlagen sein wird. Perfekt orchestriert ist sein
       Auftritt. Er liest aus dem Anfang des Buches, von der Geburt des
       Ich-Erzählers Hans, ein Einzelgänger, der fremden Schweiß und andere Kinder
       nicht mag und früh seine Eltern verliert. Hans beginnt zu boxen und taucht
       später in die Welt der Geheimclubs an der Eliteuni Cambridge ein, wo ihm
       Verbrechen, Verrat, Liebe begegnen.
       
       „Das Buch ist manchmal klüger als ich“, sagt Würger, 1985 geboren, im
       Gespräch. Er hat eine Bilderbuchkarriere als Journalist hingelegt. Mit 23
       Jahren zum Spiegel, seine Reportagen vielfach ausgezeichnet. Er boxt, hat
       zuletzt in Cambridge studiert und ist dort selbst Mitglied des Pitt Club.
       
       ## Ins Manuskript verliebt
       
       Hannes Ulbrich hat es anschließend schwer. Er erweist Tijan Sila den
       „Freundschaftsdienst“ und muss die Zuschauer aus ihrer Ergriffenheit
       reißen. Viele schlechte Manuskripte habe er als Lektor beim KiWi-Verlag
       lesen müssen, nach den ersten Seiten von Silas Roman „Tierchen unlimited“
       aber habe er sich sofort verliebt.
       
       „Als ich meinen Chefs davon erzählte, fühlte es sich an, als stelle ich
       meine Freundin meinen Eltern vor.“ Das Publikum kann wieder lachen. Der
       Ich-Erzähler in Silas Roman wächst im bosnischen Bürgerkrieg auf. Mit 13
       flieht er mit seiner Familie, Sila liest Passagen dieser Flucht vor. Durch
       einen Tunnel raus aus Sarajevo – eine Art Wiedergeburt –, in die Enge,
       Hitze und den Gestank des Reisebusses, der die Familie in die Pfalz bringt.
       
       Schwer erträglich und dennoch irre komisch, dieser kindliche Blick auf die
       Kriegs- und Fluchtgräuel. Auch der Rest des Romans ist durchzogen von
       Slapstick, Tragik und Humor. In Deutschland begegnet der Ich-Erzähler vor
       allem Neonazis, Polizisten und Mädchen.
       
       Sila, der in Kaiserslautern Berufsschullehrer ist, teilt den Lebenslauf mit
       seiner Figur. Dennoch ist der Roman eine Art Anti-Biografie. „Ich bin zum
       Glück nicht so wie er“, sagt Sila. Nicht so wie der „dunkle Zwilling, der
       ich auch hätte werden können“.
       
       ## Geteilte Wut
       
       Fatma Aydemirs Thema ist die Wut ihrer Romanheldin Hazal, die im Berliner
       Wedding als Kind türkischer Eltern aufwächst. Aydemir liest eine Szene aus
       „Ellbogen“, in der Hazal an ihrem 18. Geburtstag mit ihren Freundinnen in
       einem Berliner Club feiern will, aber an den Türstehern scheitert. Weil sie
       Kanaken sind, da sind sich die Freundinnen sicher. Es folgt Wut, „die nicht
       in mich hineinpasst“ und in einem Gewaltausbruch mündet, der Hazal zwingt,
       nach Istanbul zu fliehen.
       
       „Ich bin nicht Hazal“, sagt Aydemir. Hazal sei zwar ihre beste Freundin
       geworden, nerve sie aber auch. Doch die Wut, die teilt sie mit ihrer Figur.
       „Wut ist wichtig, es kommt nur drauf an, wie man mit ihr umgeht.“ Aydemir,
       Jahrgang 1986, ist taz-Redakteurin und wurde in Karlsruhe geboren. Die
       Sehnsucht nach Istanbul kenne sie, Teile des Buches hat sie dort 2016
       geschrieben, politisch „ein Scheiß-Jahr“ übrigens.
       
       Ihr „Freundschaftsdienst“ ist ungewöhnlich. Baske, ein Streetart-Künstler
       aus Karlsruhe, sprayt, malt, schüttet Farbe auf eine große Leinwand,
       integriert Aydemirs Gesicht. Eine Performance, die ohne gesprochene Worte
       auskommt.
       
       Doch an diesem Samstagabend siegt Emotion über Performance und Humor. Takis
       Würger erhält die meisten Zuschauerstimmen. Das Preisgeld will er mit
       seiner Mutter teilen, sagt er.
       
       12 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paul Wrusch
       
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