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       # taz.de -- SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz: Retter der Sozialdemokraten
       
       > Die SPD galt vor Martin Schulz im Wettstreit mit der CDU um die
       > Kanzlerschaft als chancenlos. Rettet er die Idee von einer Volkspartei
       > für alle?
       
   IMG Bild: Martin Schulz, der neue Megastar der Sozialdemokraten
       
       Berlin/Bielefeld/Duisburg/Essen taz | Die Rettung mit Steckleiter aus dem
       ersten Stock der Schule droht zu scheitern. Die Feuerwehrmänner in
       Duisburg-Marxloh üben so etwas jeden Mittwoch, aber heute stehen ihnen
       Kameraleute im Weg. „Geht mal zurück, Behinderung von Rettungseinsätzen ist
       ein Straftatbestand“, sagt Martin Schulz, Kanzlerkandidat der SPD.
       Eigentlich, sagt ein Feuerwehrmann zu Schulz, hätten wir ja am liebsten Sie
       aus dem ersten Stock retten lassen. „Nee, ich bin rettungslos verloren“,
       sagt Schulz.
       
       Marxloh ist verrufen, ein Synonym für Armut, Ghetto, Verlotterung. Der
       Zugführer, groß, bullig und seit 47 Jahren Feuerwehrmann, sagt: „Wir sind
       die Feuerwehr in der No-go-Area“. Wer hier noch wählt, gehört zur
       Minderheit. Bei der letzten Kommunalwahl blieben 80 Prozent zu Hause. Ein
       perfekter Ort für Martin Schulz und seine Botschaft: Es gibt Probleme, aber
       auch Leute, die etwas dagegen tun.
       
       Später sitzen rotwangige Feuerwehrmänner mit einem Bier in der Hand in der
       engen Wache. Schulz hält eine knappe Rede: Der Einzelne ist schwach
       Gemeinschaft macht stark. Man hört das gern in der Feuerwache in Marxloh,
       während draußen Würstchen brutzeln. Die Gefahr, das die Gesellschaft
       zerfällt, ist erst mal gebannt, wenn man zusammen grillt.
       
       Beim Fototermin nimmt er einen Feuerwehrhelm in die Hand. Er setzt ihn
       nicht auf. Das wäre zu dick aufgetragen. Er achtet auf Distanzen. Kurz
       bevor er wieder in seine Limousine steigt, sagt der Kandidat: „Ich komme
       zurück, wenn ich Kanzler bin.“ Pause. „Wenn ich nicht Kanzler bin, dann
       auch.“ Lachen bei der Löschgruppe 302.
       
       Jeder kennt den Moment, in dem plötzlich etwas gelingt. Wenn beim Lernen
       einer Sprache auf einmal die Hemmung verschwindet, zu reden. Wenn beim
       Fußball der Pass ankommt, der sonst immer daneben ging. Was schwer schien,
       ist auf einmal leicht. Warum sich die Blockade der Sozialdemokraten gerade
       jetzt löst, ist so recht nicht zu erklären. Nach Brexit, Trump und zwölf
       Jahren Merkel wirkt Schulz unverbraucht, wie jemand der den Zerfall der EU
       aufhalten kann. Trotzdem bleibt ein rätselhafter Rest, Wissenschaftler
       nennen das Kontingenz. Das meint etwas mehr als Zufall. Es ist einen Punkt,
       an dem Gefühle, Fähigkeiten, Empfindlichkeiten, Hemmungen, die schon lange
       vorhanden sind, in einer etwas anderen Mischung auftreten. Und etwas Neues
       entsteht. Die SPD und ihr Kanzlerkandidat scheinen gerade an so einem Punkt
       zu sein.
       
       ## Die SPD im Aufwind
       
       Die Umfragen sind gut, die Kommentare in vielen Medien freundlich. Zu
       Veranstaltungen der Partei kommen wieder Hunderte Genossen. In diesem Jahr
       sind bereits zehntausend Menschen in die SPD eingetreten. Die Hälfte jünger
       als 35 Jahre. Eine erfrischende Nachricht für eine Partei, die immer älter
       und kleiner wird und in der auch SPD-Geschäftsführer in Großstädten
       grübeln, wann sie ihren Laden dichtmachen müssen. In Zeitungen und im
       Fernsehen heißt die SPD zwar noch Volkspartei, aber sie ist immer weniger
       eine. Sie hat die Kraft verloren, Menschen von der mittelständischen
       Unternehmerin bis zum Stahlarbeiter an sich zu binden. Ändert sich das
       gerade?
       
       Der Faktor, der die Stimmung verwandelt hat, ist 61 Jahre alt, eher klein,
       einst Bürgermeister in einer Kleinstadt bei Aachen, dann 22 Jahre lange
       Karriere im Europäischen Parlament. Also dort, wo Parteien lange vor allem
       ausgedienten Politiker hinschickten. Brüssel ist eine Endstation, kein
       Anfang. Wie mobilisiert ausgerechnet Schulz Sehnsüchte? Und welche?
       
       Céline Göhlich sitzt in einem Cafe unweit von Kanzleramt und Reichstag in
       Berlin. Gestreiftes Hemd, Businesslook. Der Blick der 23-Jährigen ist wach,
       die Sätze druckreif. Sie hat einen deutschen Vater und eine französische
       Mutter und spricht vier Sprachen. Vielleicht will sie ein halbes Jahr nach
       Lateinamerika. Erfahrungen sammeln, Selbstverwirklichung. Göhlich hat
       geerbt und finanziert damit ihr Studium – „International Affairs“ an einer
       teuren Privatuniversität. Eigentlich hat sie mit der Linkspartei
       sympathisiert.
       
       ## Und dann verschwand der Gewerkschaftsmacho
       
       Wie Merkel in der Griechenlandkrise gehandelt hat, fand sie furchtbar. „Ich
       bin in erster Linie EU-Bürgerin, in zweiter Deutsche, in dritter
       Französin.“ Mit dem Gedanken, in eine Partei einzutreten, hat sie schon
       länger gespielt. Ohne Sahra Wagenknechts Sprüche gegen Flüchtlinge wäre sie
       jetzt vielleicht in der Linkspartei. Stattdessen ist sie am 1. Februar in
       die SPD eingetreten. Wegen Schulz.
       
       „Er hat als Präsident das Europäische Parlament stark gemacht, das war
       super“, sagt sie. Céline Göhlich traut Martin Schulz zu, Wähler von der AfD
       fernzuhalten – ohne sich an die Rechtspopulisten anzuschmiegen.
       
       „Das Problem meiner Generation ist, dass wir so viele Möglichkeiten haben
       und uns nicht entscheiden können“, sagt Göhlich. Jetzt hat sie sich für die
       SPD entschieden. Erst mal. Wenn Schulz von Obergrenzen für Flüchtlinge
       reden würde, wäre sie wahrscheinlich wieder raus aus ihrer neuen Partei.
       
       Die SPD war mal eine Arbeiterpartei, aber das ist Geschichte. Sie ist seit
       Langem eine Partei der Mittelschicht, für Menschen wie Céline Göhlich. Dass
       viele dieser Menschen sich für die SPD nicht mehr begeistern können, hat
       auch mit dem Wandel der Sozialdemokraten zu tun. Vor 30, 40 Jahren war das
       Personal noch vielfältiger, schwieriger, streitbarer. Es gab kernige,
       machohafte Gewerkschaftsführer, bürgerliche Sozialdemokraten, linke
       AkademikerInnen, energische soziale Aufsteiger, ein paar Intellektuelle und
       Unternehmer. Spätestens seit 1998, seit Schröder und Rot-Grün, dominiert in
       der Parteielite der SPD der Bildungsaufsteiger; wortgewandt, aber
       kantenloser als die alten Recken, blasser.
       
       ## Arbeiter sind eine Minderheit in der Partei
       
       In der SPD-Parteielite 2017 gibt es zahlreiche Juristen und
       Politikwissenschaftler. Sie kennen sich in Verwaltungen aus, aber weniger
       in den Fabriken und Laboren der Republik. Nun braucht jede Organisation
       Manager, anpassungsfähig, effektiv, kompromissbereit. Es gibt sie bei der
       Union, den Grünen und bei der Linkspartei. Doch in der SPD scheint der
       Frank-Walter-Steinmeier-Typus alle anderen an den Rand gedrängt zu haben.
       Nur noch 16 Prozent der Genossen sind Arbeiter.
       
       Dieses stromlinienförmige Profil hat wenig Strahlkraft. Wer gut verdient,
       aber an eine Gesellschaft glauben will, in der es auch für
       Hartz-IV-Empfänger und Teilzeitjobber gerechter zugeht, dem bietet die
       Partei wenig. Vielleicht sind viele potenzielle Mitglieder und Wähler aus
       der Mittelschicht auch einfach gelangweilt von einer Partei, die zu sehr
       wie sie selbst aussieht.
       
       Martin Schulz verdeckt dieses Manko der SPD. Er ist kein Jurist und kein
       Politologe. Er hat nicht studiert und nicht die klassische Karriere gemacht
       – Apparat, Verwaltung, Parlament. Er war, nachdem seine Fußballkarriere
       nach Knieproblemen kaputt war, Alkoholiker. Und er ist da wieder
       rausgekommen. Mit Schulz kehrt zurück, was der SPD fehlt – mehr Leben als
       Aktenvermerk.
       
       Céline Göhlich ist der eine Pol des sozialdemokratischen Spektrums. Ein
       anderer ist Heinz-Peter Gajewski.
       
       Ein kleines Büro im Verdi-Haus Essen, aus dem Fenster geht der Blick über
       die Dächer der Stadt. Hier berät Heinz-Peter Gajewski, 72 Jahre, Jeans,
       blauer Pulli, Pott-Dialekt, Mitglieder der Gewerkschaft Verdi, wie sie das
       mit der Lohnsteuer richtig machen. Am 1. Februar ist er in die SPD
       eingetreten. „Schulz will ja die Altersarmut stoppen“, sagt Gajewski. Er
       erhofft sich von dem SPD-Mann keine Wunder, das nicht. Aber Reichensteuer
       und Begrenzung der Managergehälter. „Ein bisschen mehr soziale
       Gerechtigkeit“, sagt Gajewski.
       
       ## „Ich weiß, was Armut ist“
       
       In der Gewerkschaft ist er seit 1957. Nach der achten Klasse ging er in die
       Lehre, er war 13 Jahre alt. 1968 hatte er einen Arbeitsunfall. Ein poröser
       Schlauch, Propangas, eine Explosion, beide Hände verkrüppelt. Seine Frau
       war schwanger, das Einkommen klein. „Ich weiß, was Armut ist“, sagt er.
       „Die Gewerkschaft hat mich getragen.“
       
       Er arbeitete wieder, in der Gewerkschaft wurde er Vertrauensmann für
       Schwerbehinderte im Fernmeldeamt Essen.
       
       Heinz-Peter Gajewski wollte etwas von der Solidarität zurückgeben, die er
       einst selbst erfahren hat. In die SPD einzutreten, darüber hat er schon
       länger nachgedacht. Mit Sigmar Gabriel konnte er wenig anfangen. Mit Martin
       Schulz schon mehr.
       
       Am Stammtisch von Heinz-Peter Gajewski kam sein Parteieintritt nicht so gut
       an. Er sei wohl bekloppt, sagten die anderen. Der Schulz rede jetzt was
       Soziales, wenn der dran sei, werde er das Gleiche tun wie alle. Die oben
       machen sich immer die Taschen voll. „Unterste Schublade“, sagt Gajewski.
       Was er von manchen Exkollegen zu hören bekommt, ist der Echoraum des
       Rechtspopulismus: das Ressentiment gegen die Aufsteiger, die das Volk
       verraten.
       
       ## Die Aufsteiger verachteten ihre Eltern
       
       Aber auch rüde und plumpe Vorurteile haben Anknüpfungen in der
       Wirklichkeit. Ja, die SPD ist eine Partei des Aufstiegs. Das war mal ihr
       großes Versprechen: Jeder kann alles werden. Die Eltern der
       SPD-Aufsteiger waren kleine Angestellte, Krankenschwestern, Putzfrauen.
       Aber als ihre Söhne studiert hatten und in der Partei Karriere machten,
       da vergaßen sie die Stammtische, an denen ihre Eltern früher saßen oder
       verachteten sie sogar.
       
       Dass das den Kontakt zu bestimmten Milieus kosten würde, haben in der SPD
       manche erkannt. Aber sie waren in der Minderheit. Und außerdem selbst
       Politikwissenschaftler. Der scharfsinnigste Kritiker des sozialen
       Aufsteigers, der französische Soziologe Pierre Bourdieu, war Aufsteiger.
       
       Das Versprechen der SPD, ihre große Erzählung, hat sich in einen Makel
       verwandelt.
       
       Drei Kilometer entfernt von Heinz-Peter Gajewskis Verdi-Büro, in
       Essen-Rellinghausen, schüttelt Martin Schulz Hände. Er eilt durch die
       Jugendberufshilfe Essen, wo Männer und Frauen um die zwanzig ihre
       Ausbildung nachholen. Er lobt die Berufsbildung und ist angemessen besorgt,
       weil das Geld fehlt. Er stürmt in eine Küche, probiert ein Teilchen
       („Amerikaner, toll“), verabschiedet migrantische Lehrlinge, denen eine
       Prüfung bevorsteht, mit „Macht’s gut, Männer“.
       
       Im Revier, kleinbürgerlich und proletarisch, verdampft das Weihevolle
       solcher Kontakte zwischen Macht und Volk schnell. Hier funktionieren die
       Stärken von Martin Schulz: das Direkte, Unverstellte.
       
       Zwei 24-Jährige arbeiten in der Schreinerwerkstatt an Holztischchen. „Was
       habt ihr für einen Schulabschluss?“, fragt der Kandidat.
       
       „Zehnte Klasse.“
       
       „Den gleichen wie ich.“
       
       „Vielleicht wird aus Ihnen ja trotzdem noch was“, sagt der Lehrling. „Hoffe
       ich auch“, sagt Martin Schulz.
       
       ## Ich vergesse nicht, wo ich herkomme
       
       Er ist das Versprechen, ein anderer Typus SPD-Aufsteiger zu sein. Einer,
       der nicht mit Dreireiher und Brioni-Mantel demonstrieren muss, dass er zur
       Elite gehört. Einer, der die Arbeiter und Angestellten, deren Ängste und
       Verunsicherungen er in seinen Reden beschwört, nicht verraten wird. Dem
       seine Herkunft nicht bloß Sprungbrett nach oben ist.
       
       Schulz trägt, bei seiner Tour durch die Republik oft einen blauen Anzug,
       den auch sein Pressesprecher anhaben könnte. Wenn der nicht gerade etwas
       Eleganteres trägt. Oder einen schwarzen Mantel von Bugatti, einer
       Modefirma aus Herford im mittleren Preis- und Hippnesssegment. Der
       Dresscode des Irgendwie-nicht-wichtig ist eine Aussage: Ich vergesse nicht,
       wo ich herkomme. Ich bin nicht Schröder.
       
       Die SPD war immer dann erfolgreich, wenn sie es schaffte, Industriearbeiter
       und aufstiegsorientierte Mittelschichten für sich zu gewinnen.
       Bildungshungrige wie Céline Göhlich und Malocher wie Heinz-Peter Gajewski.
       So war es Anfang der siebziger Jahre, als sie die Kanzler stellte, und so
       war es auch zu Beginn der rot-grünen Regierung ab 1998.
       
       Bei Martin Schulz ist für jeden etwas dabei. Gefühl für die Partei, mehr
       soziale Gerechtigkeit für die Gewerkschaften. Für die Zufriedenen das Lob
       des blühenden Landes. Schulz kommt beim Bildungsbürgertum, das in die Oper
       geht, genauso an wie beim Facharbeiter, der Helene Fischer hört. Damit
       kehrt der ramponierte Traum der SPD zurück, Volkspartei zu sein.
       
       Damit wieder mehr Leute in die Partei kommen und die die drin sind, nicht
       weglaufen, muss der Kanzlerkandidat allerdings auch einen eleganten Umgang
       mit der sozialdemokratischen Geschichte finden, die manchmal wie ein Alb
       auf den Gemütern der Sozialdemokraten lastet.
       
       ## Die Utopie nicht vergessen
       
       Die CDU beschwört zwar auch ihre Altvorderen wie Konrad Adenauer und Ludwig
       Erhardt, aber dort ist es letztlich Folklore. Die Konservativen wollen die
       Welt nicht verbessern, sie vollziehen Veränderungen höchstens nach. In der
       SPD jedoch wird immer auch Utopie verlangt, die Gegenwart immer verglichen
       mit den hehren Idealen aus über 150 Jahren Sozialdemokratie.
       
       Freitagabend, Ende Februar. Martin Schulz steht bei einem Kongress der
       Jusos, der Jugendorganisation der SPD, im Willy-Brandt-Haus locker an einem
       roten Stehpult. Es ist ein Heimspiel, das Publikum begeisterungsbereit. Im
       Hintergrund sieht man im Halbdunkel die überlebensgroße Bronzestatue von
       Willy Brandt. Nach der Rede schenkt Juso-Chefin Johanna Uekermann Schulz
       einen Spielzeugzug, in Erinnerung an Brandt, der beim Wahlkampf 1972 mit
       der Eisenbahn durch die Republik fuhr. 1972, als die SPD mehr als 45
       Prozent bekam und fast als eine Million Mitglieder hatte. Und Volkspartei
       war, nah an den Gewerkschaften, mit einem Bein im Bürgertum. Als sie eine
       Mission hatte, auch gleich mehrere: Demokratie, Ostpolitik, Bildungsreform.
       
       Im Schatten der glorreichen Geschichte sieht die Gegenwart ziemlich grau
       aus. Wo früher kühne Zukunftsentwürfe geschmiedet wurden, ist jetzt
       Gewurschtel. Die Partei leidet unter dem bohrenden Gefühl, im grauen,
       visionsfreien Heute nur noch technokratischer Sachverwalter zu sein. Gerade
       in der Großen Koalition. Wenn die Jusos „Martin, Martin!“ skandieren,
       scheint sich die Lücke zwischen dem Jetzt und dem besseren Gestern zu
       schließen.
       
       Was viele vergessen haben: Willy Brandt trug, bevor er 1969 Kanzler wurde,
       den Spitznamen Willy Wolke. Weil viele bei Brandt vor lauter
       Kompromissformeln nicht mehr wussten, wo es lang geht. Volksparteien
       können nur in diesem unverbindlichen Raum existieren. Sie müssen
       anschlussfähig an verschiedene Milieus sein, Kompromissmaschinen, die
       widersprüchliche Interessen verarbeiten. Erfolgreich ist die SPD, wenn sie
       beides kann: Kompromiss und Kampf.
       
       ## Unser blühendes Land
       
       Stadthalle Bielefeld, ein regnerischer Montag im Februar. Die AfA, die
       Organisation der Arbeitnehmer in der SPD, veranstaltet in dem kühlen
       Funktionsbau einen Kongress, „Zukunft der Arbeit“. Es gibt glanzvollere
       Ereignisse. Aber mehr als 700 Menschen sind gekommen. Schulz klingt mal wie
       ein Pastor, mal wie ein Gewerkschafter. „Wenn die Bäckerei an der Ecke ihre
       Steuern zahlt, aber der US-Kaffeekonzern daneben nicht, dann ist das
       ungerecht“, ruft er. Er verdichtet Abstraktes, Steuerpolitik im
       globalisierten Kapitalismus, in einfache Bilder. Botschaft: Viel ist gut,
       aber längst nicht alles. Signalworte: Unser blühendes Land. Dankbarkeit für
       die Älteren. Stolz auf die Flüchtlingshelfer.
       
       „Wir schreiten Seit’ an Seit’“, das alte Lied der Arbeiterbewegung, ruft
       Schulz den Betriebsräten zu, sei das modernste politische Konzept. Der
       Plunder der SPD-Geschichte? So ein Satz kann in unfreiwillige Komik
       stürzen. Hier nicht. Weil Schulz ein Gefühl ausstrahlt, das bei anderen,
       bei Steinbrück, Steinmeier oder auch bei Sahra Wagenknecht, fehlt. Das
       Vertrauen, dass er mit den Arbeitern und Altenpflegern, die er in seiner
       Rede zitiert, auch einen Abend in der Kneipe verbringen würde, ohne sich zu
       langweilen.
       
       Martin Schulz riecht nach alter SPD. Das galt als jahrelang als
       hoffnungslos out. Allerdings haben schon Bernie Sanders und Jeremy Corbyn
       gezeigt, dass traditionelle Sozialdemokratie wieder ankommt, gerade bei
       Jüngeren.
       
       Die Agenda 2010 ist Symbol für die kaltherzigen Arroganz der Aufsteiger-SPD
       gegenüber denen, die zurückblieben. Das von Gewerkschaften oft zitierte
       Angstbild dafür ist der Mittfünfziger, der mehr als drei Jahrzehnte
       gearbeitet hat, seinen Job verliert und nach zwei Jahren auf Hartz IV ist.
       
       Vor Kurzem habe ihn ein 50-Jähriger angesprochen, der Angst um seinen
       Arbeitsplatz hatte, sagt Martin Schulz in Bielefeld. „Wenn der seinen Job
       verliert, bekommt er 15 Monate Arbeitslosengeld. Und dann geht es an seine
       Existenz. Das darf nicht sein“, ruft er. „Wir haben Fehler gemacht.“ Das
       ist tatsächlich neu.
       
       ## Fehler eingestehen
       
       Noch nie hat ein SPD-Spitzenpolitiker Fehler bei der Agenda eingeräumt.
       Schulz zeigt ein genau kalkuliertes Maß an Zerknirschung, im Ungefähren
       zwischen Erneuerungsversprechen und Lob des Erreichten.
       
       Zwei Wochen später präsentiert Arbeitsministerin Andrea Nahles konkrete
       Pläne. Ältere Arbeitslose sollen länger Arbeitslosengeld bekommen, wenn sie
       sich weiterbilden. Und Jüngere bekommen leichter Arbeitslosengeld. Das ist
       eine Korrektur, keine Revision der Agenda. Doch das Wort, das nachhallt,
       ist nicht das „Arbeitslosengeld Q“ von Nahles, sondern der „Fehler“ von
       Schulz.
       
       Seine Strategie ist es, forsch und schonungslos anzusprechen, was wehtut.
       Und es dann in Watte zu packen. Versöhnen statt spalten. Und eher
       Kompromiss als Kampf. Wenn das zu viele Schulz-Fans merken, könnte die
       Euphorie leicht wieder abnehmen.
       
       Aber was passiert dann? Die SPD-Umfragewerte werden auch mal wieder sinken.
       Martin Schulz wird ein verhageltes Wahlergebnis erklären oder Klares zu
       Griechenlands Schuldenkrise sagen müssen. Der Honeymoon mit den Medien wird
       nicht bis zur Wahl währen. Der Geschichte von der Auferstehung der SPD wird
       die vom Fall aus großen Höhen folgen. Martin Schulz kann nicht so
       reibungslos bis zum Wahltag am 24. September kommen, wie er bisher durch
       die Republik geeilt ist. Dann werden die kommen, die zweifeln, ob der
       kleine Mann aus Würselen der Richtige ist. Kann Martin Schulz eigentlich
       kämpfen, wenn er es muss? Wie reagiert er auf Rückschläge?
       
       ## Fehlt nur noch ein schöner Hitler-Vergleich
       
       Daniel Cohn-Bendit, 71 Jahre alt und einst Chef der Grünen-Fraktion im
       Europäischen Parlament, hat Schulz zwölf Jahre lang in Brüssel im
       politischen Nahkampf erlebt. „Martin hat einen begnadeten Sinn für
       machtpolitische Konstellationen“, sagt Cohn-Bendit, „und er ist ein
       begnadeter Förderer seiner eigenen Karriere. Das ist nicht als Kritik
       gemeint.“
       
       1994, als Schulz nach Brüssel kam, saß er bereits nach einer Woche im
       wichtigen Menschenrechtsausschuss. Später wurde er Fraktionschef der
       Sozialisten. Dann Präsident des EU-Parlaments, das er aus dem Abseits
       holte und zum machtpolitischen Player machte.
       
       „Er hat Großes für Europa geleistet. Das muss man als erstes sagen, danach
       kann man ihn kritisieren“, sagt der grüne Parlamentarier Sven Giegold. Da
       gibt es einiges. Bei einem Untersuchungsausschuss über die
       Dieselbetrügereien deutscher Autokonzerne verhinderte Schulz mit
       freihändiger Gestaltung der Geschäftsordnung missliebige Abstimmungen.
       
       Seinen Freund Jean-Claude Juncker bewahrte er vor einem
       Untersuchungsausschuss. Juncker hatte jahrelang illegale Bankdeals in
       Luxemburg zugelassen. Bei Luxleaks, sagt Giegold, hat Schulz „mit den
       Ellenbogen gearbeitet, da kennt er nichts“.
       
       ## Steile EU-Karriere
       
       Dass es in der Europäischen Union transparent zugeht, hat Martin Schulz
       immer weit weniger interessiert als Machtpolitik und vorzeigbare
       Resultate. Seine EU-Karriere war steil, es gab wenige gefährliche
       Konkurrenten, die er aus dem Weg räumte. Kaum Niederlage oder existentielle
       Krisen.
       
       Die Konkurrenz tut sich schwer damit, das zu ändern. Auch die Kampagne, die
       die Union gegen Schulz als angeblich korrupten EU-Bürokraten initiierte,
       ist so erfolglos wie sie bigott war. Die Personalpatronage, die die Union
       ihm vorwirft, betreiben die Christdemokraten in Brüssel nämlich selbst.
       Auch die Angriffe gegen Schummel-Schulz zündeten nicht recht: Der SPD-Mann
       hatte in einem Interview behauptet, dass 40 Prozent der Jüngeren nur
       befristetet Jobs haben, es sind aber nur 14. Doch Schulz scheint derzeit
       immun gegen Kritik.
       
       Finanzminister Wolfgang Schäuble attackierte den SPD-Mann als deutsche
       Ausgabe von Donald Trump. Im Willy-Brandt-Haus hörte man das gern. „Was
       kommt als Nächstes? Ein Hitler-Vergleich?“ sagt ein Mitarbeiter des
       Kandidaten fröhlich.
       
       Es sieht so aus als gehe es für Martin Schulz erst einmal weiter bergauf.
       
       19 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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   DIR Martin Schulz
       
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   DIR Kommentar Steinbrücks SPD-Hass-Liebe: Was für ein Angeber
       
       Peer Steinbrück kommt in Fahrt, wenn er die SPD schmähen darf. Hört er sich
       einfach gerne reden oder ist das Promotion für seine Comedy-Karriere?
       
   DIR Kolumne Geht's noch: Der Schulzzug fährt
       
       Die Euphorie für Martin Schulz scheint grenzenlos. Und plötzlich sprechen
       alle vom „Schulzzug“. Doch was soll das eigentlich bedeuten?
       
   DIR Kanzlerkandidat zum Bundeshaushalt: Schulz lehnt stärkere Aufrüstung ab
       
       Mit dem aktuellen Haushaltsüberschuss ließe sich viel anstellen. Statt der
       Bundeswehr will Martin Schulz Geringverdiener und Arbeitslose begünstigen.
       
   DIR Zahlendeuterei von Parteichef-Wahlen: Ein Journalist darf nie zufrieden sein
       
       Schulz wurde mit 100 Prozent der Stimmen gewählt – das „riecht nach
       Nordkorea“. 80 Prozent gelten dafür als „Abstrafung“. Ja, wie denn nun?
       
   DIR Kommentar Die neue Schulz-SPD: Vom Ich zum Wir
       
       Im Kern sagt Schulz das Gleiche wie Gabriel, es klingt aber freundlicher,
       wärmer, bedeutender. Nicht alle gehören jedoch zum SPD-Wir.
       
   DIR Sonderparteitag der SPD: Hundert Prozent Schulz
       
       Seine Wahl gerät zum Erweckungserlebnis. Die Partei lag lange am Boden und
       glaubt nun wieder an ihre Stärke. Hält die Euphorie an?
       
   DIR Kommentar Familien im Wahlkampf: Was mit Kindern ist immer gut
       
       Wie die Parteien versuchen, eine Gruppe zu vereinnahmen, die stets
       Leidtragende der Realpolitik ist: alleinerziehende Mütter und Väter.
       
   DIR Kommentar „Arbeitslosengeld Q“: Da läuft was schief
       
       Das eigentliche Problem, das Alter der Arbeitslosen, löst Schulz' Vorschlag
       nicht. Und er ist gegenüber Beziehern von Hartz IV nicht fair.
       
   DIR Die Wahrheit: Vom Schlage Schontyp
       
       Gesellschaft und Wahlkampf: Martin Schulz kämpft für die hart arbeitende
       Bevölkerung. Aber wer kämpft eigentlich für den Rest?
       
   DIR Änderungen der Agenda 2010: Q wie Qualifizierung
       
       Die SPD beschließt die Forderung nach Verbesserungen beim Arbeitslosengeld
       I. Weiterbildungen sollen früher und länger möglich sein.
       
   DIR Martin Schulz will Agenda 2010 justieren: Gegenwind für die Reform der Reform
       
       Kanzlerkandidat Martin Schulz will eine „Bundesagentur für Arbeit und
       Qualifizierung“. Die CDU ist entsetzt, Arbeitgeber ebenso.
       
   DIR Kolumne Die eine Frage: Polo mit Gerechtigkeitsturbo
       
       Merkel oder Schulz – das ist ungefähr so wie die Wahl zwischen Golf Diesel
       oder Polo Diesel. Es braucht aber eine politisch-kulturelle Alternative.