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       # taz.de -- Menschenrechtsaktivist zu Isolationshaft: „Widerspricht türkischem Recht“
       
       > Welt-Korrespondent Deniz Yücel und weitere türkische Journalist*innen
       > befinden sich derzeit in Einzelhaft. Das ist unangemessen, sagt Öztürk
       > Türkdoğan.
       
   IMG Bild: Das Hochsicherheitsgefängnis Silivri, 80 Kilometer von Istanbul entfernt
       
       taz: Herr Türkdoğan, wie muss man sich die Haftbedingungen für
       Journalist*innen in der Türkei vorstellen? 
       
       Öztürk Türkdoğan: Die verschärfte Einzelhaft in der Türkei ist in keinerlei
       Weise mit Haft in Deutschland vergleichbar. Dort werden Inhaftierte
       vielleicht allein in Haft belassen – aber es gibt vorgesehene Zeiten für
       den sozialen Austausch, also gemeinsame Hofgänge und dergleichen. In der
       Türkei gibt es eigentlich seit 2007 einen Erlass des Justizministeriums,
       wonach Gefängnisinsassen Zeit für soziale Kontakte zugesichert wird. Die
       Umsetzung ist jedoch vollkommen der Willkür der Gefängnisleitung
       unterworfen.
       
       Was dürfen Gefangene in der verschärften Einzelhaft? 
       
       Sie können an die frische Luft gehen. Allein. Jede Zelle hat ihren eigenen
       abgetrennten Freiluftraum, sodass sie die anderen Inhaftierten nicht zu
       Gesicht bekommen. Jetzt, während des Ausnahmezustands, dürfen sich
       Gefangene, denen Terrorunterstützung vorgeworfen wird, durch ihre Anwälte
       nur eine Stunde in der Woche beraten lassen. Die Beratungen werden
       aufgezeichnet. Nur engsten Familienmitgliedern, etwa Frau und Kindern, ist
       es erlaubt, alle zwei Wochen einen Besuch abzustatten. Diese Form von
       Isolationshaft widerspricht türkischem Recht.
       
       Kann man denn sagen, wie viele Journalist*innen sich derzeit in Einzelhaft
       befinden? 
       
       Nein. Die Zahl ändert sich stetig, da einige nur für eine kurze Zeit in
       Einzelhaft bleiben und anschließend auf größere Zellen mit mehreren
       Insassen verteilt werden.
       
       Mit welcher Begründung werden Journalist*innen unter solchen Bedingungen
       inhaftiert? 
       
       Im Rahmen der Terrorbekämpfungsgesetze, also mit dem Vorwurf der
       Terrorpropaganda. Deshalb werden unter anderem Mitarbeiter der Zeitung
       Cumhuriyet in der Strafvollzugsanstalt in Silivri unter extremen
       Bedingungen gehalten. Der Besuch von nahen Angehörigen – ohne Trennscheibe
       dazwischen – findet nur alle zwei Monate statt. Dabei wurde der Erlass,
       laut dem Strafgefangenen sozialer Kontakt zusteht, nie aufgehoben. In
       Silivri aber gilt er nicht. Diese Form der Isolationshaft ist eine
       unangemessene Behandlung und wird von mehreren unabhängigen Stellen mit
       Folter gleichgesetzt.
       
       Viele Journalisten befinden sich derzeit in Gefängnissen des sogenannten
       F-Typs. 
       
       In der Türkei gibt es derzeit 14 Strafvollzugsanstalten dieses Typs, also
       Hochsicherheitsgefängnisse. Hier leben Menschen unter härtesten
       Bedingungen: 5 bis 6 Personen werden in Zellen für 3 untergebracht, in
       anderen Fällen 20 bis 30 in Zellen für 8 oder 10 Personen. Seit dem
       Putschversuch vom 15. Juli 2016 ist die Lage noch schlimmer geworden.
       Interessant ist, dass einerseits die Gefängnisse vollkommen überlastet sind
       – und andererseits Inhaftierte tagelang isoliert gehalten werden können.
       Der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter (CPT) ist befugt, einmal
       im Jahr die Haftbedingungen vor Ort zu dokumentieren und mit den
       Inhaftierten zu sprechen. Anschließend wird diese Dokumentation an die
       türkische Regierung übergeben, was allerdings keinerlei Konsequenzen hat.
       
       Deniz Yücel, Korrespondent der Welt, befindet sich seit Anfang März in
       einer Einzelzelle in Untersuchungshaft. Wie schätzen Sie seinen Fall ein? 
       
       Nun, wenn Sie inhaftiert werden, ist es üblich, dass Sie die ersten 24
       Stunden in Einzelhaft kommen. Diese Frist darf nicht überschritten werden.
       Danach kommen Sie mit anderen ähnlich gelagerten Fällen in eine größere
       Zelle. Herr Yücel ist leider das letzte Opfer einer Regelung, nach der Sie
       bereits im Vorfeld bestraft werden können, auch wenn ihre Schuld noch nicht
       bewiesen ist. Und es ist sehr mühsam, sich gegen diese Behandlung
       aufzulehnen. Bereits zuvor wurden Bürgermeister*innen, Abgeordnete und
       Journalist*innen in dieser sehr harten Form isoliert.
       
       Wie lebt Deniz Yücel? 
       
       Herr Yücel befindet sich momentan wie weitere 152 Journalist*innen und
       Medienmitarbeiter*innen, 13 Abgeordnete und 60
       Bürgermeister*innen in Haft. Die meisten von ihnen wissen noch nicht
       einmal, aus welchen Gründen. Allen wird die Unterstützung von
       Terrororganisationen vorgeworfen, dabei ist der konkrete Name der
       Organisation mittlerweile egal. Die verschärfte Einzelhaft, also die
       Isolationshaft, verstößt in erster Linie gegen die Menschenwürde. Zudem
       wirkt sich eine solche Haft, je länger sie dauert, erheblich auf die
       psychische Verfassung aus; dazu gibt es viele wissenschaftliche
       Untersuchungen. Noch mal: Eigentlich dürfen Inhaftierte nur für einen Tag
       unter diesen Bedingungen gehalten werden – was derzeit Herrn Yücel
       widerfährt, ist eine vollkommen willkürliche Anordnung und widerspricht
       türkischem Recht.
       
       Können unabhängige Beobachter zurzeit überhaupt in die
       Strafvollzugsanstalten in der Türkei? 
       
       Wir erhalten über die Anwälte der Inhaftierten Informationen über den
       Zustand in den Strafvollzugsanstalten; Besuche und Gespräche sind uns nicht
       gestattet. Vor allem seit dem 15. Juli hören wir vielfach von
       Foltervorwürfen und unangemessener Behandlung, vor allem für diejenigen,
       die mit Anhängern von Fethullah Gülen in Verbindung gebracht werden. Es
       gibt derzeit keine Organisation und auch keinen Ausschuss, der diesen
       Vorwürfen vor Ort nachgehen könnte.
       
       Also auch keine Ausschüsse der Regierung in Ankara? 
       
       Schon vor dem Putschversuch gab es eine Monitoringstelle Strafvollzug und
       Zuchthaus, die an das Justizministerium angeschlossen war. Allerdings wurde
       die Arbeit der bisherigen Mitglieder am 1. September 2016 per
       Notstandsdekret beendet. Mittlerweile wurden neue Mitglieder bestimmt, und
       die Stelle untersteht jetzt dem Justizministerium und liefert ihre Berichte
       dorthin. Somit ist eine wirksame Kontrolle nicht gegeben. Vor knapp einer
       Woche wurden zudem die Mitglieder der Menschenrechts- und
       Gleichstellungskommission bestimmt. Acht kommen von der Regierungspartei
       AKP, weitere drei wurden durch Präsident Erdoğan persönlich ausgewählt.
       Solcherart beeinflusst, ist eine Kommission kaum fähig, unabhängig und
       unparteiisch zu arbeiten. Sie ist zwar befugt, Untersuchungen in den
       Strafvollzugsanstalten durchzuführen – aber niemand weiß, wann sie damit
       beginnen wird. Der Menschenrechtsausschuss des Parlaments setzt sich
       ähnlich zusammen und wird seiner eigentlichen Aufgabe ebenfalls nicht
       gerecht. So ist eine gründliche Beobachtung und Prüfung der Gefängnisse
       kaum möglich.
       
       23 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ebru Tasdemir
       
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