URI: 
       # taz.de -- Kolumne Die eine Frage: Der Willy Woodstock der SPD
       
       > Schwarz-Weiß-Aufnahmen: SPD gerecht, Grüne ungerecht, Merkel müde. Ist
       > alles wirklich so, wie wir es immer gedacht haben?
       
   IMG Bild: Ist Schulz der Retter, den viele in ihm sehen wollen? Oder beruht sein Erfolg auf einem riesigen Selbstbetrug?
       
       Ihre lebenslange Freundschaft mit Martin zerbrach, als er ihr vorwarf, ins
       Kinderkriegen zu flüchten. Nur gut, dass ihr Mann Georg ihr beistand.
       
       Sie hat die Szene seit Jahren im Kopf. Und nun fragt sie sich: War das
       wirklich so? Oder hat ihr Mann damals die Sache eskalieren lassen? „In
       letzter Zeit scheint es ihr manchmal, dass vieles im Leben genau
       andersherum gewesen sein könnte“, schreibt die Schriftstellerin Eva Menasse
       in ihrem neuen Buch „Tiere für Fortgeschrittene“.
       
       Dieser Satz geht mir seit Wochen im Kopf herum.
       
       Er gilt für das persönliche, gelebte Leben, aber er ist auch die Grundlage
       der gesellschaftspolitischen Analyse im progressiven Teil dieser
       Gesellschaft. Ist alles wirklich so, wie wir es immer gedacht haben?
       
       Am Donnerstag fragte ich Eva Menasse bei der Leipziger Buchmesse, ob sie
       das auch so sieht oder ob das Zulassen dieses Gedankens schon Verrat und
       Zurückweichen vor autoritären Kräften sei. „Im Moment sind unsere Annahmen
       über die Welt sehr schwarz und sehr weiß“, sagte sie. Es gäbe auch Gutes,
       das käme im Moment zu kurz. „Wir haben uns da auch verhärtet und mit nicht
       so wichtigen Sachen viel zu sehr beschäftigt und diese Zündschnur aus Wut
       nicht gesehen, die sich über diesen Globus legt.“
       
       Ist alles wirklich so? Grundlage eines bestimmten Denkens ist das
       Willy-Woodstock-Gefühl. Also, dass wir mit der Brandt-SPD auf dem Weg ins
       Paradies waren. Zweitens die kulturelle Erinnerung, dass die
       Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder/Fischer das Grundübel dieses
       Landes seien. Dass es danach mit der Gerechtigkeit bergab ging und das nun
       die zentrale Frage sei.
       
       Es gibt aber soziologisch gesehen keine „Abstiegsgesellschaft“ in
       Deutschland. Was es zunehmend gibt, ist Angst vor Abstieg, also Verlust von
       Teilhabe an dieser Wohlstandsgesellschaft. Mit dieser Angst arbeitet der
       Willy Woodstock 2017, und das ist Martin Schulz.
       
       ## Werte, die wir hochhalten
       
       Schulz ist ein riesiger Selbstbetrug, sagt Stephan Lessenich, ein Münchner
       Politikprofessor. Die Leute wollten sich glauben machen, dass mit einem für
       sie neuen Gesicht die alte Leier noch weitergehen kann, zumindest in
       Deutschland.
       
       Selbstverständlich haben wir hier Werte, die wir hochhalten. Aber erst mal
       bedeutet Gerechtigkeit, dass es einen selbst nicht erwischt. Das verspricht
       Schulz, wenn man mal genau hinhört. Wer sich seine Festanstellung oder
       Rente hart erarbeitet hat oder irgendwie reingerutscht ist, behält sie. Das
       ist eine mehrheitsfähige Botschaft, denn die große Mehrheit der Älteren hat
       ja noch eine ordentliche.
       
       Damit Schulz der bessere Selbstbetrug wird, muss nun eine andere kulturelle
       Erinnerung umgeschrieben werden, an die wir gerade glauben wollten: Dass
       Angela Merkel kühl darüber wacht, dass es ordentlich weiter geht. Deshalb
       wird jetzt darauf bestanden, dass sie gefühlsduselig und wahnsinnig müde
       geworden sei.
       
       Was diesem kulturellen Gerechtigkeitsgefühl völlig abgeht: Die dramatische
       globale Ungerechtigkeitszunahme durch den Klimawandel. Es ist erstaunlich,
       wie der politischste Linksliberale mit moralischem Überlegenheitsgestus
       ausgerechnet den Grünen vorwirft, sie hätten kein Gefühl für die drängende
       Frage der sozialen Gerechtigkeit. Man kann auch sagen: Sie selbst haben
       kein Gefühl für die Notwendigkeit der sozialökologischen Wende, also einer
       globalen Gerechtigkeitspolitik – weil dafür in der Willy-Woodstock-Kultur
       kein Bild gespeichert ist.
       
       In Woodstock rief der dortige Schulz: „Wenn wir es uns nur ganz fest
       wünschen, dann können wir diesen Regen vielleicht stoppen.“ Und dann riefen
       alle: „No rain, no rain.“ Das war ein wunderschönes Gefühl.
       
       Aber es regnete weiter.
       
       26 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Unfried
       
       ## TAGS
       
   DIR Martin Schulz
   DIR Schwerpunkt Angela Merkel
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Woodstock
   DIR FDP
   DIR Schwerpunkt Emmanuel Macron
   DIR Alexander Van der Bellen
   DIR Grüne
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kolumne Die eine Frage: „Du bist blöd“
       
       Die Grünen finden die FDP „neoliberal“. Die FDP findet die Grünen doof,
       weil die immer alles verbieten wollen. Doch wem nützt der gegenseitige
       Hass?
       
   DIR Emmanuel Macron in Berlin: „Wir müssen die EU reformieren“
       
       Frankreichs neuer Politstar Emmanuel Macron redet mit Jürgen Habermas über
       Europa. „Siegfried“ Gabriel, der SPD-Außenminister, ist auch da.
       
   DIR Kolumne Die eine Frage: Links oder liberal
       
       Von Politikern wie Alexander Van der Bellen zu Emmanuel Macron: Wie gewinnt
       man Mehrheiten für das offene Europa?
       
   DIR Kolumne Die eine Frage: Sind die Grünen am Ende?
       
       Wenn die Umfragewerte in die Höhe schießen: Die Suggestion des Moments
       lautet, dass SPD-Kandidat Schulz alles ändert. Nein, das tut er nicht.