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       # taz.de -- Die Wahrheit: Manga-Martins letzte Reise
       
       > Zur Leipziger Buchmesse 2017: Ein Rundgang durch die Messehallen mit dem
       > greisen Großdichter Martin Walser.
       
       Was ist das, das Leben? Ein Brocken Zwieback, der im Mund zergeht? Ein
       Stück Seife, das im Badewannenstrudel sinnlos wirbelt? Solche und ähnliche
       Gedanken waren es, die Martin Walser bewegten, als er seinen Leib ächzend
       aus dem ICE wuchtete. Leipzig Eitsch-Bieh-Eff, so hatte es der Ansager
       vollmundig versprochen, und so war es auch gekommen: Gestern noch neunzig
       Jahre alt geworden, Smarties-Torte mit Eis und Zwieback gemümmelt, heute
       schon in Leipzig, der „alten Bücherstadt“ (Uwe Wittstock), der büchernen
       Altenstadt.
       
       Er, Walser, war hier, um es ihnen allen noch einmal zu zeigen, bevor es
       letztlich in ein besseres Jenseits zu gehen galt. Eben hatte ihn der Cicero
       zum Intellektualitätsweltmeister 2017 gewählt – noch vor Kubitscheck,
       weiter noch vor Stefan Gärtner. Eben auch war „Ewig aktuell“ erschienen,
       eine Sammlung politischer Aufsätze; auch sein neuer Roman „Der neue Walser“
       war in den Charts.
       
       Vermodern sollten andere, er, Walser, stand im Saft, powerte ungebrochen,
       hielt Wacht am Rhein. Martin Walser hüllte sich in seinen Hut, einen neuen,
       noch breitkrempigeren, von einem Borsalino-Gestüt bei Gailingen, rief leise
       „Ahu!“ und mäanderte Richtung Vorplatz.
       
       ## Verzehr einer Orange
       
       Im Taxi Richtung Buchmesse zog Martin Walser eine Plastikschale aus dem
       Mantel, entnahm ihr eine Navelorange, zerpflückte sie mit steifen Fingern
       und begann dann, sie lustvoll auszusaugen. Mhmh, mjamjam! Währenddessen
       betrachtete er sein Leben, überlegte, was er damit noch vorhatte. Noch ein
       paar Söhne zeugen? Ein paar Medienmogule in die Welt setzen? Auf dass seine
       Saat, aaah, weiterströmen möge noch aus dem Grab heraus? Eigentlich keine
       schöne Vorstellung.
       
       Noch eine Jahrhundertrede halten? Ein paar Schlussstriche ziehen? Den
       gefinkelten Schlomos noch ein letztes Mal Bescheid stoßen? Da würden sie
       wieder Angst vor ihm haben! Was würde er, der Provokateur, der konservative
       Erzrevoluzzer, nur wieder sagen? Walser seufzte durch klebrige Lippen.
       Vielleicht doch noch ein Buch schreiben? Da war noch Stoff für „Frau Judy
       Schleindl“, ein Briefroman über mehrere liegengelassene Getränkecoupons.
       Oder noch mal was über Abtreibung? Diesmal noch krasser? Uuuuuähhhh, bitte
       töte mich nicht, schrie der Embryo mit Piepsstimme, doch unerbittlich
       senkte sich die Kreissäge des Chirurgen hinab ins Gemärk der so
       leichtfertig Zeugungswilligen … na ja.
       
       Schon halb ermattet blickte Martin Walser hinaus ins Goldgefunkel des
       Leipziger Allerleis, das sich draußen feilbot. Die deutsche Teilung! Ah,
       die schmerzende Lücke! Ah, die nie verheilende Narbe am waidwunden
       Volkskörper! Sollte sie ewig schwären, klaffen, kläffen? Oder sollte nicht
       doch wenigstens Leipzig heim ins Reich geholt werden? Walser nahm sich vor,
       gleich nach dem Wochenende Helmut Kohl anzurufen, um das mal anzuteasern.
       
       Martin Walser schritt durch die Messehallen, stetig den Strom der Gäste mit
       dem Spazierstock zerteilend. In Gedanken ging er noch einmal die Rede
       durch, die er gleich halten würde. Es ging um Sprache, um Sätze, um die
       Unmöglichkeit von Theorie. Eine Theorie, so dachte er still, das ist doch
       wie ein Gebäude mit vielen Zimmern, und in allen brennt Licht, tanzt der,
       der das alles erdacht und gemacht hat. Hatte er das gerade selbst gedacht?
       Oder geschrieben, irgendwo? Diesen Mist? Möglich war es.
       
       Seine letzten Werke waren ja im Wesentlichen zusammengetackerte Aphorismen
       und Kalauer, reine Stoffsammlungen, ein- bis zweimal im Jahr zwischen zwei
       Buchdeckel gepresst. Er wusste es und schämte sich kurz ein wenig.
       Gleichzeitig hatte noch keiner aufgemuckt. Keiner seiner Feinde lebte mehr,
       ihm Widerworte zu liefern. Schade eigentlich. Feinde waren
       Sinnlieferungsdienste, Sinnhaltigkeitsmannigfaltigkeiten, die Faltencremes
       der verwitternden Sprachhaut, welche wie auf Kaba flimmert. Und doch waren
       dies alles letztlich nur Sätze, die nichts anderes waren als das Feuer auf
       dem Strohballen des Wissens. Dies klang erdverbunden und zugleich
       kopflastig, das würde wieder sehr gut ankommen.
       
       Walser nickte froh mit dem greisen Haupt. Sprache war ja etwas völlig
       Beliebiges. In Berlin bestellte man Schrippen, in München Semmeln, in
       Stuttgart Noiweggerle. In einem Schweizer Restaurant hatte er mal nach
       einem Gläschen Kantönligeist verlangt und war trotzdem bedient worden. Je
       nun.
       
       ## Betrachten von Trachten
       
       Etwas irritiert war Martin Walser aber doch. Statt der üblichen Lektorinnen
       und Vertriebsmenschen, den „Verlagsschlampen“, wie er sie insgeheim fast
       genießerisch nannte, waren hier lauter junge Menschen in seltsamer Tracht.
       Grelle Farben, Plastikschwerter, künstliche Häschenohren, japanische
       Röcke. Vielleicht ein Gag des Marketings? Schließlich ging es ja auch in
       „Der neue Walser“ um Jugend und Alter.
       
       Eben noch war er im Deutschlandfunk zitiert worden mit dem Satz, er habe es
       stets abgelehnt, in der Jugend jung und im Alter alt zu sein, er habe stets
       asynchron zu sich selbst gestanden. Schönheit und Daseinsschmerz,
       Alleinsamkeit und Altersmeise, sie gingen bei ihm Hand in Hirn. Und wenn er
       da diesen Nippon-Tanten nachblickte, schielend nach ihrer süß schimmernden
       Orangenhaut, dachte er daran, dass er die liebende Ehefrau Susi Gern im
       „Lebenslauf der Liebe“ ganz ähnlich gezeichnet hatte, nur ohne
       Fledermausflügel.
       
       „Dakuan!“, riefen die jungen Menschen immer wieder, als sie ihn sahen,
       „goiles Cosplay, Alda!“ Verwirrt grüßte er zurück, blickte auf Schilder,
       auf denen das Rätselwort „Manga“ stand. Was hatte das denn mit ihm, Walser,
       zu tun? Dem konservativen Rebell, dem kommunistischen Nazi? Ging es
       vielleicht um – Mangan? Mangan, das Element? Aber ja! Mangan! Braunstein!
       Der braune Fels, auf welchem die Nation stehen sollte, stehen musste,
       sollte sie nicht durch das verderbnisheischende Tun gewisser krummnasiger …
       Ja! Das musste es sein!
       
       Er spürte Jugendlichkeit in sich hineinrieseln, nahm gar selbst ein
       Samuraischwert und band es sich um den Leib. Er fühlte sich wieder in die
       Zeit seiner Bestseller zurückversetzt. Ein springender Mann, ein singendes
       Pferd, der wiehernde Brunnen! Fips, der Affe, Straps, die Maus! Außen
       Top-Hits, innen Geschmack! Es war, als würde er durch einen mächtigen Sog
       aufgerichtet, als hätte eine gewaltige Penispumpe Besitz von ihm ergriffen.
       
       ## Befriedigung durch Ohren
       
       Mit großer Befriedigung fuhr Martin Walser nach Hause. Auf seinem Kopf
       thronten zwei plüscherne Fuchsohren. Noch immer hörte er den Jubel, den ihm
       seine Rede über die Unmöglichkeit der Theorie bei den Cosplayern
       eingebracht hatte: „Voll der whacke Shit! Crazy, Dakuan!“
       
       Seine letzten Jahre hatten nun auf einmal Sinn. Er würde Mangas machen,
       Mangas! Mit Otaku, Hentai und allem drum und drin! Total hirnverbranntes
       Zeug! Und Denis Scheck würde wieder diensteifrig um ihn herumwuseln wie ein
       zugekokstes Meerschweinchen. Ja, das war schon ein anderes Kritikerkaliber
       als der unselige Reich-Ranicki, dessen schrille, quäkende Stimme ihm …
       Nein, ein guter Kritiker wusste, wann er zu schweigen hatte. Sayonara,
       Leipzig!, dachte Walser glühend. Wir sehen uns nächstes Jahr auf der
       Comic-Con!
       
       25 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Leo Fischer
       
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