URI: 
       # taz.de -- Locker-Room-Talk im Theater Osnabrück: Kein Platz für Ideale
       
       > Der Aufführungsort für Patrick Marbers Fußballstück „Der rote Löwe“ ist
       > die Spielerkabine des VfL. Das sorgt für größe Nähe zum ausgefeilten
       > Drama
       
   IMG Bild: Hautnah kommt das Publikum dem Geschehen. Es fiebert, leidet mit.
       
       Kaum etwas hat auf den ersten Blick weniger miteinander zu tun als Theater
       und Fußball. Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten.
       
       Denn was ist ein mit Flutlicht beleuchteter Fußballplatz anderes als eine
       Bühne? Auf der sich wahre Dramen abspielen, in denen Helden gemacht und
       fallen gelassen werden. Und wo es auf der einen Seite die TrainerInnen mit
       der Mannschaft gibt, sind es auf der anderen die Regie und ihre
       SchauspielerInnen.
       
       Doch wie sagte einst Sepp Herberger? „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.“
       Mit anderen Worten: Das Drama endet nie. Gerade im Fußball kamen in den
       vergangenen Jahren hässliche Untiefen ans Licht. Es gab DFB-, Fifa- und
       Wettskandal. Geld und Ruhm waren offenbar wichtiger als der Fußball selbst.
       
       Da liegt es doch nahe, ein Stück über Fußball hinter die Kulissen zu
       verlegen. Das Theater Osnabrück macht genau das und führt Patrick Marbers
       „Der rote Löwe“ in einer Spielerkabine auf. Das ist auch der Ort, den
       Patrick Marber in seinen Regieanweisungen vorgibt. Doch während das
       Staatstheater Nürnberg das Fußballdrama bei der deutschen Erstaufführung
       auf die Bühne holte, bringt Osnabrück das Theater nun ins VfL-Stadion.
       
       ## Schauspieler plus 34 ZuschauerInnen in einer Kabine
       
       Stücke außerhalb des Theaters zu zeigen, ist nichts Ungewöhnliches. Doch so
       hautnah dran am Geschehen ist ein Publikum selten. Kaum mehr als
       Zimmergröße hat die Kabine, in der die Schauspieler und die 34
       ZuschauerInnen in einer Runde zusammenkommen. Da ist jeder Atemzug des
       beeindruckend authentischen Ronald Funke als Zeugwart Yates zu hören, der
       Figur, die am stärksten leidet.
       
       Glücklich ist indes keiner der drei Charaktere, die für verschiedene
       Generationen und Überzeugungen stehen. Yates ist der Älteste. Für ihn zählt
       der Zusammenhalt, nicht das Geld. Er sorgt nicht nur für Ordnung, indem er
       Hemden bügelt und saubere Handtücher bereit legt. Er tut das auch in den
       Seelen der Spieler, für die er eine Vaterfigur ist. Yates hat eine geradezu
       symbiotische Verbindung zu dem Verein. Früher war er selbst Spieler, später
       Trainer. Doch unter seiner Führung ging es bergab, und er wurde abgesetzt.
       Es folgten Absturz und Obdachlosigkeit – bis er als Zeugwart zurückkehren
       konnte.
       
       Was für ein anderer Mensch ist da Trainer Kidd, ein Taktiker, nicht nur auf
       dem Platz. Ihm geht es nicht um Ehrlichkeit und Verlässlichkeit. Kidd will
       Geld und Anerkennung. Mit ihm kann der Verein siegen. Doch Kidd geht es
       nicht um die Mannschaft, sondern um seinen persönlichen Erfolg. Dafür ist
       er bereit, Spieler zu opfern.
       
       Das Fußballtalent Jordan steht irgendwo zwischen diesen Polen. Er ist noch
       jung und voller Hoffnung. Als Kidd von ihm verlangt, dem Schiedsrichter
       vorzutäuschen, er sei gefoult worden, lehnt er zunächst entschieden ab.
       Doch es bleibt ihm nichts anderes übrig, wenn er nicht auf der Ersatzbank
       versauern will. Und auch wenn Jordan sich schon mal auf seinen christlichen
       Glauben beruft, ist er doch nicht so idealistisch, wie es wirkt. Denn kaum
       haben alle den Raum verlassen, holt er eine Spritze mit Steroiden aus der
       Tasche, um sein kaputtes Knie zu versorgen.
       
       Schauspieler Niklas Bruhn wirkt zuweilen wie ein verwundetes Tier. Sein
       Jordan stammt aus einer kaputten Familie. Der Fußball ist seine Chance, dem
       Elend zu entkommen. Auch bei Kidd ist nicht alles im Reinen. Seine Frau
       will die Scheidung, Schulden hat er auch noch. Wenn Thomas Kienast ihn also
       herrisch und fordernd spielt, dann steckt dahinter nicht die Gier nach
       mehr, sondern ein Überlebenskampf.
       
       ## Das Spiel dauert 90 Minuten, es fesselt bis zum Schluss
       
       Kidd drängt Jordan, seinen Vertrag zu unterschreiben. Er will ihn nicht
       fördern, sondern gleich gewinnbringend an den nächsten Verein verkaufen.
       Yates dagegen will Jordan davor schützen, zum Spielball von Machtinteressen
       zu werden.
       
       Am Ende haben sie alle verloren. Doch während Trainer und Spieler einfach
       neu anfangen, ist für Yates alles zu spät. Er ist die Identifikationsfigur
       des Stücks, deren stilles Leiden Ronald Funke ohne große Gesten und mit
       erschreckender Selbstverständlichkeit spielt.
       
       Hier die Moral, dort das Geld – der klassische Gegensatz in dem 2015
       uraufgeführten Stück reicht über den Fußball hinaus. Das wird spätestens
       dann deutlich, wenn Trainer Kidd Verträge einen „Spieleinsatz“ nennt. „Das
       Schließen und Brechen von Verträgen gehört zum Lauf der Welt“, sagt er,
       „Immobilien, Finanzen, Arbeit, Anlagen, Ehen“.
       
       Viel Distanz wird den ZuschauerInnen nicht gegönnt. Zwar zieht Ronald Funke
       zu Anfang eine letzte Grenze, indem er ein Fußballfeld auf den Boden
       sprüht, nur wenige Zentimeter von den Füßen der ZuschauerInnen entfernt,
       die auf Bänken und in den Umkleidenischen an allen vier Wänden Platz
       nehmen. So blicken sie auf ein Spielfeld, nur dass in keine Tore geschossen
       werden, sondern um Interessen, Macht und Geld geschachert wird.
       
       Regisseurin Leonie Kubigsteltig nimmt Marbers Stück als das, was es ist:
       ein psychologisch ausgefeiltes Drama, in dem alle Figuren ihre Widersprüche
       haben. Kubigsteltig kennt die englische Theaterlandschaft. Zehn Jahre lebte
       sie in London, wo sie Tanz studierte und als Choreografin, Spielleiterin
       und schließlich als Regisseurin tätig war. Inzwischen lebt sie wieder in
       Deutschland und hat in verschiedenen Theatern inszeniert.
       
       Den Raum nehmen Leonie Kubigsteltig und Bühnen- und Kostümbildnerin Julia
       Scheurer im Großen und Ganzen so, wie er ist. Ein paar Fotos der
       Schauspieler am Fußballfeldrand hängen an den Wänden. Auf Bildschirmen ist
       das Produktionsteam beim Zugucken auf den lila Rängen des VfL zu sehen. Das
       passt zum Realismus der Inszenierung, bleibt aber nicht ohne Augenzwinkern.
       
       Theater und VfL erhoffen sich durch die Kooperation einen Synergieeffekt:
       Bühnenliebhaber sollen den Kickersport, Fußballfans das Theater entdecken –
       vorausgesetzt, sie sind bereit für diesen ernüchternden Blick auf ihren
       Sport. Das Spiel dauert 90 Minuten, eine Pause gibt es nicht, es fesselt
       bis zum Schluss. Und danach ist es dennoch eine Erleichterung, dieser Enge,
       in der Ideale keinen Raum haben, zu entfliehen.
       
       Nächste Termine: 29. März, 6., 11., 20., 27. und 28. April., jeweils 19.30
       Uhr, Kassenhäuschen Nord, Stadion Bremer Brücke
       
       29 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anne Reinert
       
       ## TAGS
       
   DIR Theater Osnabrück
   DIR Fußball
   DIR Theater
   DIR Drama
   DIR VfL Osnabrück
   DIR Theater Osnabrück
   DIR Schauspieler
   DIR Theater Osnabrück
   DIR Theater
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Veränderung des Osnabrücker Stadions: Fußballromantik aus Stein
       
       Die Initiative Mythos Bremer Brücke fordert, dass das Stadion des VfL
       Osnabrück erhalten wird. Baumaßnahmen sind wegen den Auflagen der DFL
       nötig.
       
   DIR Interdisziplinärer Totentanz in Osnabrück: Wiederbelebte Wichtel
       
       Das Projekt „Danse Macabre“ widmet sich Bildern vom tanzenden Tod vom
       Mittelalter bis in die Gegenwart – mit Tanz, Ausstellungen und
       Installationen in vier Häusern
       
   DIR Jens Peters über Schauspiel ohne Autor: Unterschiede aushalten!
       
       Aktuelles Sprechtheater verzichtet oft auf AutorInnen. Das ermöglicht mehr
       Formenvielfalt, sagt der Osnabrücker Chefdramaturg Jens Peters
       
   DIR Darf man Humor auf Tumor reimen?: Die Verzweiflung eines Krebspatienten
       
       Mit dem Stück „Über meine Leiche“ hat Stefan Hornbach den 2. Osnabrücker
       Dramatikerpreis gewonnen. Marlene Anna Schäfer hat es jetzt schlüssig
       inszeniert.
       
   DIR Theaterstück von syrischem Geflüchteten: Ratlosigkeit des Überlebens
       
       Er hat die Theaterszene in Osnabrück aufgemischt. Bei seinem Gastspiel in
       Berlin thematisiert Anis Hamdoun seinen Weg nach Deutschland.