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       # taz.de -- Jugendnotdienst in Berlin: Viel Nacht, wenig Asyl
       
       > Ein Monat beim Jugendnotdienst in Berlin ist wie anderswo sechs, sagt ein
       > Sozialarbeiter. Viele von ihnen halten nur ein paar Jahre durch.
       
   IMG Bild: Rund um die Uhr erreichbar, an 365 Tagen im Jahr – im Büro des Jugendnotdienstes in Berlin
       
       Berlin taz | Am Tisch sitzt jetzt Chiara*, fast 16 Jahre, das blasse
       Gesicht halb in ihrem Anorak vergraben. Es geht auf 20 Uhr zu, Neonlicht
       brennt. Der Sozialarbeiter ihr gegenüber macht sich Notizen. Es gab am
       Abend eine Drogenrazzia in einem Dönerladen, dort hat die Polizei sie
       aufgegriffen.
       
       Ihre Mutter in Sachsen hat sie als vermisst gemeldet. Chiara versteht
       nicht, was das soll: Die Mutter will sie doch gar nicht mehr zu Hause
       haben, Chiara schläft schon länger bei Freunden, mal hier, mal dort. „Meine
       Mutter und ich haben uns auseinandergelebt. Wegen meiner Pubertät. Ich war
       anstrengend.“
       
       „Sagt deine Mutter?“
       
       „Ja. Ich hatte Probleme, auch mit Drogen.“
       
       Chiara hat in betreuten WGs gelebt, in geschlossenen Heimen, sie war in der
       Jugendpsychiatrie und im Gefängnis. „Ich hab alles durch. So geht das, seit
       ich 13 bin.“
       
       Können wir dir helfen? „Nein.“ Der Sozialarbeiter schiebt die Papiere
       zusammen. Ob sie über Nacht bleiben will? Sie schüttelt den Kopf.
       
       ## Die Tochter ist auf Chrystal Meth
       
       Sebastian Moritz ist ein schlanker Mann, 46 Jahre alt, mit Zopf und sanfter
       Stimme. Seine Schicht hat gerade begonnen, bis morgen halb acht wird er
       hier bleiben, im Jugendnotdienst, Mindener Straße 14. Im Büro wählt er die
       Nummer der Mutter. Die sagt, Chiara ist drogensüchtig, sie nimmt Crystal
       Meth. Moritz sagt: Sie hat uns schon wieder verlassen. Die Mutter tonlos:
       „Ach, klar.“
       
       Der Jugendnotdienst gehört zum Berliner „Notdienst Kinderschutz“. Die
       Mitarbeiter sind zuständig, wenn die 14 Jugendämter in der Stadt
       geschlossen sind. Sie sind rund um die Uhr erreichbar, 365 Tage im Jahr.
       Gerufen werden sie in Fällen, die keinen Aufschub dulden, weil ein
       Jugendlicher in der Stadt sofort Hilfe braucht. Oft haben sie es mit
       betrunkenen Eltern, Drogen, familiärer Gewalt zu tun. Am nächsten Werktag
       gibt der Notdienst die Fälle ans Jugendamt ab, das entscheidet, was weiter
       mit den Jugendlichen passieren soll. So sollte es jedenfalls laufen.
       
       Kurz vor acht Uhr, es ist Samstag, ein paar Wochen später, Sebastian Moritz
       hat wieder Nachtschicht. Ein kalter Wind pfeift durch dunkle Straßen; der
       Notdienst liegt in einer ruhigen Ecke von Charlottenburg. Im Büro ist
       Schichtübergabe. Moritz streift seine Jacke ab, bindet seinen Zopf neu,
       fragt: „Was ist der Stand der Dinge bei unseren Schätzchen hier?
       
       ## Bradley hat Hausverbot
       
       Die Kollegin am Schreibtisch sagt: „Es gibt Neuigkeiten von Bradley. Der
       hat Hausverbot in seiner Notunterkunft, wegen der Sache mit der Pistole.“
       An der Rückwand hängt eine weiße Plastiktafel, darauf steht, wer in den
       Zimmern oben untergebracht ist. Die Kollegin fasst die neuen Fälle
       zusammen: Da ist ein Mädchen aus Bayern. Der Vater will, dass sie eine
       Ausbildung in seinem Unternehmen macht. Sie will das nicht, deswegen ist
       sie abgehauen, nach Berlin, zu einem Typen, den sie aus dem Internet kennt.
       Aber nun will sie wieder zu ihren Eltern; gleich morgen früh wird sie in
       den Zug steigen. Sie lächelt dünn; so leicht lassen sich die meisten Fälle
       nicht lösen.
       
       Einen Großteil ihrer Arbeit machen inzwischen Jugendliche aus, die immer
       wieder bei ihnen auftauchen: Es sind immer dieselben, Dustin, Viggo,
       Bradley, Hakim, manche kommen jeden Abend, einige sind seit Monaten hier.
       Sie nennen sie „Drehtürjugendliche“, weil keine Einrichtung sie mehr
       aufnimmt, und deshalb pendeln sie nun zwischen Jugendnotdienst,
       Notunterkünften und Schlafstätten für obdachlose Jugendliche.
       
       Die zweite Hälfte der Nacht bricht an; Sebastian Moritz brüht sich einen
       Kaffee auf. Pro Schicht sind fünf, sechs Sozialarbeiter im Einsatz. Die
       meisten halten nur ein paar Jahre durch. „Ein Monat hier ist wie anderswo
       sechs Monate“, sagt Fatos Shabani, der an der Wand des Büros lehnt, mit
       kurz rasierten Haaren und trainiertem Oberkörper.
       
       ## „Den Anblick krieg ich nicht mehr weg“
       
       Er erzählt von einer Nacht, es ist noch nicht allzu lange her: Eine Frau
       rief an, bei den Nachbarn sei ein behindertes Mädchen eingesperrt. Shabani
       fuhr zu der Adresse, da wohnte eine Familie aus Osteuropa. Die Tochter lag
       auf dem Sofa, der Sozialarbeiter sah sie erst nicht, da regte sich etwas
       unter der Decke, das Mädchen, 15 Jahre. Shabani sagt: „Die wog nur noch 12,
       15 Kilo. So was hab ich noch nie gesehen. Den Anblick krieg ich nicht mehr
       weg.“
       
       Für solche Fälle ist der Notdienst da, akute Fälle, bei denen es um Leben
       und Tod gehen kann. Aber die Mitarbeiter reiben sich auf an Fällen, für die
       sie nicht zuständig sein sollten. Der Spardruck in der Jugendhilfe ist
       hoch, es fehlt an allem, an Wohnungen für betreutes Einzelwohnen, an
       Krisenplätzen. Die Heime können sich aussuchen, wen sie nehmen. Manche
       Jugendliche fallen durch die Maschen, weil sie teuer sind, drogensüchtig
       oder psychisch labil. Es kommt auch vor, dass Jugendliche rausgeworfen
       werden, sogar in der Nacht, mitunter reicht es, dreimal zu spät zu kommen.
       Auch die stehen beim Notdienst vor der Tür.
       
       Dort aber gibt es kein Personal, Jugendliche kontinuierlich zu betreuen,
       und zu wenig Platz. Manchmal müssen Matratzen in den Flur gelegt werden.
       Moritz sagt: „Wenn das Haus voll ist, kann es leicht zu Konflikten kommen.
       Man sollte als Sozialarbeiter damit rechnen, dass man angegriffen wird.“
       Er ist beschimpft worden, angespuckt, mit Schürfwunden heimgegangen, einmal
       hat einer mit einem Stuhl auf ihn eingeschlagen: „Ich hoffe jedes Mal, dass
       der Kelch an mir vorübergeht.“
       
       ## Die Maschen sind groß
       
       Die Senatsverwaltung für Jugend und Familie teilt mit, sie wisse, dass es
       für manche Jugendliche schwer ist, einen Platz zu finden. „Es ist uns sehr
       wichtig, dass kein Jugendlicher durch die Maschen fällt“, sagt eine
       Sprecherin, ihre Behörde sei mit den freien Trägern im Gespräch, „wie
       Hilfen für diese Gruppe noch passgenauer abgestimmt werden können“.
       
       Es ist noch recht früh, ein Freitagabend, das Telefon klingelt, Nadine
       Schlotte sitzt am Telefon, eine hochgewachsene Frau mit langen dunklen
       Haaren. Die Polizei, Abschnitt 32. Sie haben Viggo aufgegriffen,
       Ladendiebstahl. Aber beim Notdienst nehmen sie ihn nicht auf, nicht heute.
       Der Junge, 16 Jahre, hat eine Sozialarbeiterin sexuell bedrängt. Er darf
       deshalb erst nach zehn Tagen in die Wohngruppe zurückkehren, nach einem
       Klärungsgespräch. Viggo ist stark drogensüchtig, der Notdienst hat ihn
       schon 14-mal in Obhut genommen. Nadine Schlotte hat gesehen, wie er mit der
       Zeit immer stärker verwahrlost.
       
       Sie hat seinetwegen immer wieder im Jugendamt nachgefragt. Die Antwort:
       Entweder er lässt die Drogen, oder er kriegt keine Hilfen. „Die sagen
       jetzt: Wir sollen nicht mehr anrufen wegen Viggo.“ In den Jugendämtern gibt
       es viel zu viele Fälle und viel zu wenig Personal. Fatos Shabani hebt die
       Schultern und sagt: „Einmal hat eine Sachbearbeiterin bei mir am Telefon
       angefangen zu weinen, einfach aus Hilflosigkeit.“
       
       ## Jeremy zieht weiter
       
       Später in der Nacht klingelt es, Schlotte geht nachschauen. Wieder einer,
       den hier jeder kennt. „Jeremy, mit Verdacht auf Krätze. Deshalb haben sie
       ihn aus seiner Einrichtung weggeschickt.“ Er muss sich zunächst behandeln
       lassen, ehe sie ihn auf ein Zimmer lassen können. Schlotte ruft im
       Krankenhaus an. „Kann ich mit dem Jungen vorbeikommen?“ Während sie noch
       telefoniert, klickt das Schloss der Eingangstür. Jeremy ist gegangen.
       
       Am Montagmittag ziehen sich Risse durch das Panzerglas der Tür. Einer
       dieser Jungs, die alle hier kennen, kam spät in der Nacht, unter Drogen, er
       schrie: „Ich brenn den Laden nieder!“, dann trat er gegen die Tür. Nadine
       Schlotte arbeitet seit fünf Jahren hier. Sie sagt, man darf die Distanz
       nicht verlieren. „Ich kann das auch nur, weil man die Fälle am Ende des
       Dienstes an die Kollegen der nächsten Schicht weitergeben kann. Vielleicht
       bin ich da zu kühl, manchmal, aber da wir so einen Durchlauf haben, kann
       man sich gar nicht so intensiv mit Einzelnen beschäftigen.“
       
       ## Die kommt hier nicht mehr raus
       
       Aber auch sie hat einen Fall betreut, den sie nicht wieder losgeworden ist:
       Ein Mädchen, schwer misshandelt, vernachlässigt, saß in der Küche und
       versuchte, sich mit der Gabel die Zähne herauszubrechen. Schlotte brachte
       sie in die Psychiatrie, da sagte der Arzt: Die kommt hier nicht mehr raus.
       
       Gegen 19 Uhr ruft eine Mutter an, die ihren ältesten Sohn aus dem Haus
       haben will. Er schikaniert die Familie, sagt sie, die Geschwister haben
       Angst. Jetzt wurde er verhaftet, er hat versucht, einen Laptop zu stehlen.
       Etwa eine Stunde später steht sie da, Maziar hat sie dabei und ihren
       kleinen Sohn. Fatos Shabani bittet zunächst den Jungen zum Gespräch.
       Maziar, ein schmaler 14-Jähriger, sieht verunsichert aus, seine Stimme
       zittert leicht.
       
       „Wie läuft es zu Hause?“
       
       „Ganz okay. Nur wenn man mir den Laptop verbietet, dann komm ich schlecht
       drauf.“
       
       Dann holt Shabani die Mutter an den Tisch. Sie sagt: Es geht nicht mehr. Er
       ist süchtig nach Computerspielen. Ständig gibt es Streit, er brüllt sie an:
       Geh sterben, Schlampe!
       
       Shabani sagt: „Er sieht das aber ziemlich entspannt.“
       
       ## Heute kann er bei der Oma schlafen
       
       Die Mutter weint jetzt. Vor der Tür rennt ihr kleiner Sohn den Flur auf und
       ab. Shabani sagt: „Ich schlage vor, dass Maziar zur Deeskalation heute hier
       übernachtet.“ Der sagt: „Da hab ich gar keinen Bock drauf.“ Die Mutter
       sagt: „Ich kann nicht mehr, ich schaff es einfach nicht.“ Maziar guckt zum
       Fenster. Sie wird ihn wieder mitnehmen müssen; heute kann er bei der Oma
       schlafen. Morgen früh werden beide zum Jugendamt gehen.
       
       Es ist Donnerstag, heute darf Viggo wieder hier übernachten. Nadine
       Schlotte hat viel telefoniert, um eine Unterkunft für ihn zu finden, ohne
       Erfolg. Es ist 19 Uhr durch, da steht er schon im Flur. Dünn ist er,
       versinkt fast in seinem Parka. Die Sozialarbeiterin fragt: „Was hast du in
       den letzten Wochen gemacht?“
       
       „Dasselbe wie sonst auch. Drogen konsumiert.“
       
       „Und wo hast du geschlafen?“
       
       „Sag ich nicht.“ Viggo nestelt an seinem Parka. Er sagt, er ist müde, sehr
       müde. Schlotte schiebt ihm einen Zettel zu: Ich verhalte mich freundlich
       und respektvoll. Er unterschreibt, folgt ihr die Treppe hinauf. Sie öffnet
       eine Tür, Viggo trottet ins Zimmer, wie einer, der nach langer Reise nach
       Hause kommt.
       
       *Die Namen aller Jugendlichen sind geändert
       
       30 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gabriela Keller
       
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