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       # taz.de -- Jarvis Cocker und Chilly Gonzales: Zimmer mit Aufsicht
       
       > Das Album „Room 29“ der Musiker versammelt Songs über ein
       > Nobelhotelzimmer in Hollywood. Hören kann man es in der Berliner
       > Volksbühne.
       
   IMG Bild: It's Chilly and Jarvis
       
       Hotelzimmer sind nicht gleich Hotelzimmer. Manchen eilen mysteriöse
       Geschichten voraus. Das spürte auch Jarvis Cocker, ehemaliger Sänger der
       britischen Band Pulp und hotelerprobter Popstar. Als er während einer
       US-Tour erkrankte, checkte Cocker zur Erholung ins Chateau Marmont ein, dem
       am unteren Ende des Sunset Boulevard in Hollywood gelegenen Hotel. Das im
       Stil eines Loire-Schlosses erbaute Haus wird seit seiner Eröffnung 1929 von
       Filmgrößen, Musikern und anderen mondänen Persönlichkeiten frequentiert.
       
       Dort haben sich bereits menschliche Tragödien abgespielt. Zimmer und Wände
       könnten von Exzessen und Einsamkeit erzählen. Der berühmte Fotograf Helmut
       Newton ließ dort etwa sein Leben, als er mit seinem Auto in eine Mauer des
       Hotels krachte. Allein die Aura des Chateau Marmont macht es zu mehr als
       nur einer Absteige. „ ‚Room 29‘, sagten sie, ‚ist das Zimmer, das du nehmen
       musst‘ “, singt Jarvis Cocker fast beschwörend. Bis zu jenem Tag, als er
       das Hotel betrat, waren seine Eindrücke von Hollywood von den Filmen
       bestimmt, die er als Kind im Fernsehen gesehen hatte. „Der Quelle dieser
       prägenden Bilder auf einmal so nah zu sein, war verstörend. Ungefähr so,
       als wäre ich beim Big Bang zu nah dran gewesen.“
       
       Aus dieser Gemengelage heraus hat der 53-jährige Crooner zusammen mit dem
       kanadischen Pianisten und Komponisten Chilly Gonzales einen Liederzyklus
       entwickelt. „Room 29“ vereint von schlicht bis opulent changierende
       Melodien mit Popsongstrukturen und Liedern, die an die Tradition des
       romantischen 19. Jahrhunderts gemahnen.
       
       Cocker erweitert den Themenkreis Hotel und zieht Parallelen zum Kino, wenn
       er auf ihre Gemeinsamkeiten verweist: In beiden können wir unsere Fantasien
       vorbehaltlos ausleben – bis es Zeit ist, nach Hause zu gehen. Im Zeitalter
       von Pop darf man „Room 29“ Konzeptalbum nennen. Mit seiner markanten
       anheimelnden Stimme, die sekündlich in Boshaftigkeit umschlagen kann,
       erzählt Cocker von Bewohnerinnen des legendären Zimmers 29: Die
       Schauspielerin Jean Harlow verbrachte hier ihre Hochzeitsnacht.
       
       Im Lied „Bombshell“ versetzt er sich in ihren Ehemann, den Filmproduzenten
       Paul Bern, der vom Leben mit der Sexbombe Harlow anderes erwartet hatte und
       fünf Monate nach der Hochzeit 1932 mit einer Kugel im Kopf aufgefunden
       wurde. Tropfende Akkorde künden von unausweichlichem Unheil. Cocker nimmt
       reale Vorkommnisse als Grundlagen, um seine eigenen, filmreifen Geschichten
       zu entwickeln – und sie zu kommentieren.
       
       ## Tod eines Konzertpianisten
       
       So vermuten Cocker und Gonzales, dass der Flügel, der in Zimmer 29 steht,
       ein Mitbringsel von Clara, der Tochter Mark Twains, ist. Die hatte das
       Zimmer kurz nach dem Tod ihres Ehemanns, einem Konzertpianisten, bezogen.
       Aber „Clara“ erzählt nicht bloß ehrfürchtig ihre Geschichte. Cocker fragt
       hundsgemein, wie es kommt, dass ihr Vater um so vieles schlauer war als
       sie, und was sie machen wird, jetzt, da ihre einzige Tochter dem Alkohol
       verfallen ist?
       
       Im wehmütig-gehässigen „Tearjerker“, an dem der japanische Schauspieler und
       Musiker Ryuichi Sakamoto mit komponiert hat, verweist Cocker auf den
       schmalen Grad, der den Trottel (Jerk) vom Schmachtfetzen (Tearjerker)
       trennt, die Reprise „The Tearjerker Returns“ verdeutlicht, dass dieses
       Problem nicht so einfach aus der Welt zu schaffen ist.
       
       Oder er macht sich, durch parolenhaften Chorgesang schmissig unterstrichen,
       in „Belle Boy“ Gedanken über die unsäglichen Erlebnisse eines Pagen und
       ergreift vehement Partei für den den Grillen der exzentrischen Hotelgäste
       schutzlos ausgelieferten Angestellten. In prägnanten Zwischenspielen
       ergänzen Hotelgeräusche wie Fahrstuhlsummen, Handwagengeklapper oder
       Türenschnappen die Erzählungen. Mehrfach kommt auch der britische
       Filmhistoriker David Thompson zu Wort, mit dem sich Cocker für dieses
       Projekt 2014 im Chateau Marmont zum Gespräch getroffen hat.
       
       ## Jagd auf Starlets
       
       Untermalt von sehnsuchtsvollen Pianoakkorden liefert Thompson
       dokumentarische Hintergründe, etwa, dass der Filmmogul Howard Hughes vom
       Fenster seines Zimmers unterm Dach des Hotels, in dem er von Mitte der 40er
       Jahre bis Ende der 50er wohnte, mit einem Fernglas nach potenziellen
       Starlets „suchte“, die sich am Swimmingpool räkelten.
       
       „Trick of the Light“ befasst sich mit der Illusion der bewegten Bilder, die
       „ein Leben versprechen, aus dem die langweiligen Teile herausgeschnitten
       sind“. Mit entsprechend üppigen Melodiebögen darf das Hamburger Kaiser
       Quartett hier eine Hollywood-Tanzrevue am Swimmingpool mit Federschmuck und
       viel Bein evozieren. Fast ein wenig zu schwülstig, zumindest aber mondän.
       Und damit ja nah dran am Thema.
       
       25 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sylvia Prahl
       
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