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       # taz.de -- Ein Gericht, zwei Meinungen: Bulgarien unzumutbar?
       
       > Ob Bulgarien für Geflüchtete sicher ist, bewerten Richter desselben
       > Verwaltungsgerichts in Hannover unterschiedlich. Flüchtlingsrat fordert
       > Rechtsprüfung.
       
   IMG Bild: Auf der Durchreise gestoppt: Geflüchtete müssen in Bulgarien mit entwürdigender Behandlung rechnen, warnt das Verwaltungsgericht Hannover.
       
       HANNOVER taz | Eine jesidische Mutter mit drei minderjährigen Kindern hat
       die Region Hannover schon nach Bulgarien abgeschoben. Als sogenanntes
       Ersteinreiseland hatte Bulgarien die Familie aus Syrien als Flüchtlinge
       anerkannt. Nun sollte ihr 19-jähriger Sohn folgen, aber das
       Verwaltungsgericht Hannover entschied, dass die Abschiebung in das EU-Land
       nach der Dublin-Regelung (siehe Kasten) seine „Existenz bedrohen und zu
       einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung führen“ würde.
       
       Flüchtlinge seien in Bulgarien „weitgehend auf sich allein gestellt“, heißt
       es in der Begründung der 15. Kammer des Verwaltungsgerichts. Ihnen drohe
       Obdachlosigkeit, sie bekämen keine Sozialleistungen und hätten keinen
       Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Entscheidung ist bemerkenswert, denn noch im
       Dezember 2016 hatte die zweite Kammer desselben Gerichts entschieden, dass
       die Abschiebung von Mitgliedern derselben Familie nach Bulgarien rechtmäßig
       ist. Es sei nicht vom „Vorliegen systemischer Mängel auszugehen“, auch wenn
       die Lebensbedingungen für Geflüchtete in Bulgarien „schwierig sein mögen“,
       heißt es in der Begründung.
       
       Zurzeit lebt die Familie voneinander getrennt. In der Nacht zum 3. Februar
       hatte ein großes Polizeiaufgebot die Abschiebung der Mutter und der drei
       Kinder in die bulgarische Hauptstadt Sofia durchgesetzt (taz berichtete).
       Der Vater und der 14-jährige Sohn der Familie sind in Deutschland
       geblieben. Denn der Jugendliche war nicht zu Hause, als die Polizisten
       kamen. Doch anstatt die Abschiebung aus diesem Grund auszusetzen, wurde die
       Familie getrennt. Der 19-Jährige Sohn, dessen Verfahren unabhängig lief,
       darf nun zunächst in Lehrte nahe Hannover bleiben.
       
       Kai Weber vom Flüchtlingsrat Niedersachsen kritisiert die wochenlange
       Trennung der Familie. Diese erinnere „an die dunklen und längst überwunden
       geglaubten Zeiten der Vorgängerregierung in Niedersachsen“. Denn
       Innenminister Boris Pistorius (SPD) war mit dem Vorsatz angetreten, „mehr
       Menschlichkeit“ in der Asylpolitik walten zu lassen.
       
       Das Innenministerium geht jedoch davon aus, dass die Abschiebung rechtmäßig
       war und beruft sich auf ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg.
       Das hatte festgestellt, dass ein „nationales Abschiebungshindernis wegen
       gravierender Mängel in Bulgarien nach derzeitiger Erkenntnislage nicht
       festzustellen sei“. Und auch die zuständige Region Hannover sieht „keine
       Rechtsgrundlage für eine Wiedereinreise nach Deutschland“.
       
       Die Familie will die Abschiebung trotzdem nicht akzeptieren. Sie hat vor
       dem Oberverwaltungsgericht einen Antrag auf Zulassung der Berufung
       gestellt. „Sie haben sich in Bulgarien nicht aus dem Hotel am Stadtrand
       getraut“, sagt Weber. Es sei bekannt, dass Rechtsextreme dort regelrecht
       Jagd auf Geflüchtete machten. In einer staatlichen Unterkunft sei die Frau
       mit ihren Kindern nicht aufgenommen worden. Auch finanzielle Unterstützung
       von den Behörden habe es nicht gegeben. „Ein Cousin ist dort hingereist, um
       ihr Geld für das Hotel zu geben“, sagt Weber.
       
       Heute seien die Mutter und die Kinder trotz der gesetzlichen 30-monatigen
       Wiedereinreisesperre „wieder auf dem Weg nach Deutschland“, sagt Weber.
       „Wir fordern vom Innenministerium, dass es die Familie nicht in Haft nehmen
       lässt und eine Rechtsprüfung zulässt.“
       
       Was passiere, sollte die Familie illegal wieder einreisen, „sei zu prüfen“,
       sagt eine Sprecherin der Region. Eine erneute Abschiebeandrohnung würde in
       jedem Fall erlassen werden. Ob mit der Abschiebung auf eine Entscheidung
       über die Berufung vor dem Oberverwaltungsgericht gewartet würde, „wäre mit
       dem Innenministerium abzustimmen“, so die Sprecherin. Denn auch der Vater
       sei „grundsätzlich ausreisepflichtig“.
       
       10 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andrea Scharpen
       
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