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       # taz.de -- Die Wahrheit: Popel deluxe
       
       > Die neue Kochkunst: Berlins ambitionierteste Körperküche „Popelhart &
       > Putzig“ setzt neue Maßstäbe in kulinarischer Grenzerfahrung.
       
   IMG Bild: Koch Albert Ottelmann fördert den Grundstoff fürs Essen zutage
       
       Im Hinterhof eines unscheinbaren Altbaus in Berlin-Mitte drücken wir wie
       vereinbart den Knopf neben dem einzigen roten Klingelschild: „Moni’s
       Lovehouse“, Parterre rechts. Die Tür öffnet sich. Wir treten ein und
       blicken uns um: ein langer Tresen beherrscht den Raum, drumherum viel
       Plüsch – am Ambiente des ehemaligen Billigbordells hat man bewusst nichts
       geändert. Im neu eröffneten „Popelhart & Putzig“ riecht es sogar noch ein
       wenig säuerlich.
       
       Dieter Dollhorn, einer der beiden Besitzer des Lokals, platziert uns am
       Tresen des ersten Popelrestaurants Deutschlands. Dort sind für uns weder
       Geschirr noch Besteck gedeckt, bis auf einen kleinen Unterteller pro
       Person.
       
       „Für die Nasenhaare“, erklärt der vollbärtige Franke im Holzfällerhemd.
       „Obwohl manche auch drauf schwören. Aber das ist Frevel. Die Haare haben im
       Popel nichts zu suchen. Sonst kann man auch gleich zu MacDonald’s gehen.“
       Sein fränkischer Akzent verschwindet weitgehend hinter dem vermutlich
       mühsam erarbeiteten Anklang jenes speziellen ostkanadischen Englischs, wie
       es sich auf die bretonisch-irischen Einwanderer Neufundlands zurückführen
       lässt. Oder zumindest ließe, sofern diese anschließend über Generationen
       hinweg den Raum Forchheim besiedelt hätten.
       
       ## Regional und lokal ist zu exotisch
       
       Ohne derlei Attitüden bliebe dem Chef der Zutritt zur ambitionierten
       Körperküche verwehrt. Daher nicken wir freundlich, als er uns in kaum noch
       verständlichen Worten das Konzept des Hauses erläutert: „Regional, lokal –
       das ist uns alles zu exotisch. Kein Produkt ist lokaler und damit frischer
       als Erzeugnisse des eigenen Körpers. Wir haben dafür eigens den neuen
       Begriff ‚hyperregional‘ geschaffen. Und alles bio!“
       
       Während der renommierte Weinkenner doziert, tritt sein Partner auf den
       Plan: der Spitzenkoch Albert Ottelmann, der seine Kochkunst zuletzt am
       Königshof von Katarrh perfektioniert hat. Er serviert uns den ersten Gang,
       indem er uns vorführt, wie mit dem kleinen Finger der Naseninhalt nur ganz
       vorsichtig angebohrt wird. Wir erhalten eine fein abgeschmeckte, dezent
       salzige Rotzpacho, ein Traum!
       
       Dollhorn sorgt derweil für die Getränke. „Einfach hochziehen“, ermuntert er
       uns, denn schließlich gibt es keine Gläser. Und tatsächlich: Durch den
       selbst erzeugten Unterdruck im Rachen landet der vorzügliche weiße
       Schnodder, in meinem Fall ein 17er „Schleimheimer Schnupfen“ aus den
       sonnigen Höhenlagen der linken Nebenhöhle, wunderbar rein am Gaumen.
       
       ## Außen eine knackige Kruste
       
       „Bloß kein Wasser dazu“, mahnt der gelernte Sommelier oberlehrerhaft. „Das
       verwässert im wahrsten Sinn des Wortes das Geschmackserlebnis.“ Sein
       cholerischer Charakter offenbart sich besonders beim mit dem langen
       Zeigefinger geförderten Hauptgang: einem großartigen Steinpopel, die
       härteste Lage, die der Zinken zu bieten hat, mit kunstvoll eingebackenem
       Nasenhaar, das, wie empfohlen, selbstverständlich entfernt wird. Außen eine
       knackige Kruste, aber innen wunderbar zart und saftig. „Ich befehle Ihnen,
       jedem Bissen äußerst achtsam nachzuspüren“, verbellt der Dogmatiker meinen
       Nebenmann, der wohl zu hastig geschluckt hat. Geduckt konzentrieren wir uns
       fürderhin auf unsere Popel. Kein Gespräch, kein Lachen, nur Kaugeräusche
       sind zu hören.
       
       Aber das macht moderne Gastronomie eben aus: den Gefangenen, das heißt den
       Sünder, also den Patienten, vielmehr den Gast stets in der Ahnung einer
       ungewissen Schuld schweben zu lassen. Der Ort ist deprimierend, die
       Mahlzeit ist die Buße, und die scharf kalkulierten hundertzwanzig Euro für
       das Menü sind der Ablass. Die Atmosphäre ähnelt jener im Filmdrama „Das
       Weiße Band“, nur mit dem Unterschied, dass wir uns nicht Anfang des
       zwanzigsten Jahrhunderts in einem norddeutschen Landpfarrhaus befinden,
       sondern 2017 in der Spitzengastronomie von Berlin-Mitte. Doch auch hier
       hält uns der klebrige Sumpf aus Drohung, Bigotterie, Demütigung und
       Nachspeise fest in seinen Fängen und verhindert unsere Flucht zur rettenden
       Imbissbude.
       
       ## Geschmacksnoten aus tiefster Kindheit
       
       Der Restaurantchef schreit, gestikuliert und dirigiert uns geradezu die
       Leckerbissen in den Mund. Nun ist es ein kunstvolles Gröstl aus geronnenem
       Nasenblut, bereits aus den tieferen Schichten entnommen und wie eine
       bacchische Fanfare das Finale des Mahls ankündigend.
       
       Erst beim Nasenkaffee wird aus dem genialischen Gastronom auf einmal ein
       charmanter und sensibler Plauderer. „Der Grundidee des ‚Popelhart & Putzig‘
       liegt eine Reminiszenz an Geschmacksnoten aus tiefster Kindheit zugrunde.“
       Die Erinnerung an den Ursprung seiner Rezepturen lässt seine Augen in
       nostalgischer Rührung schimmern. „An Popel, aber auch an Sandkuchen mit
       Urin und Regenwasser.“
       
       „Ja, den wollen wir auch bald anbieten“, sagt Dollhorn, als habe er unsere
       Gedanken erraten. „Wir suchen nur noch nach einem verlässlichen
       Hauslieferanten mit nachhaltiger Buddelkiste.“
       
       12 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uli Hannemann
       
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